AsbestDie tödliche Altlast
Seit 1990 ist die Verwendung von Asbest verboten, doch immer noch sterben in der Schweiz jährlich rund 100 Personen, die Kontakt mit dem gefährlichen Werkstoff hatten.

Feinste Asbestfasern, die über die Atemwege in die Lunge gelangen, können innert 15 bis 40 Jahren tödliche Krankheiten auslösen.
Das Urteil im grössten europäischen Asbest-Prozess ist gesprochen. Am Montag verurteilte ein Gericht in Turin den Schweizer Industriellen Stephan Schmidheiny und seinen ehemaligen Geschäftspartner, den belgischen Baron Jean-Louis de Cartier de Marchienne, zu 16 Jahren Gefängnis wegen «unbeabsichtigter Tötung». Sie werden für den Tod von 2056 Menschen verantwortlich gemacht, die in italienischen Eternitwerken oder deren Umgebung mit Asbestfasern in Kontakt gekommen waren. Weitere 833 Personen sollen schwer erkrankt sein.
Stefan Schmidheiny hatte die vier italienischen Eternit-Werke 1976 von seinem Vater übernommen und bis zu deren Konkurs 1986 geführt. Jean-Louis de Cartier war vor 1976 für die Werke verantwortlich. Die gesundheitlichen Gefahren von Asbest waren zu dieser Zeit längst bekannt. 1924 war in einer medizinischen Fachzeitschrift die Lungenkrankheit Asbestose erstmals erwähnt worden. Die SUVA anerkannte Asbestose 1939 als Berufskrankheit. Anfang der 1960er Jahre brachten Ärzte die neue Krebsform Mesotheliom mit Asbest in Zusammenhang. Dennoch galt Asbest weltweit jahrzehntelang als Wundermittel für die Bauwirtschaft.
Auf die gesundheitlichen Gefahren reagierten die italienischen Eternit-Werke erst in den 1970er Jahren und stellten die Trockenproduktion zunächst auf das gefahrlosere Feuchtverfahren und schliesslich auf die völlig asbestfreie Produktion um. Schmidheiny investierte dafür nach eigenen Angaben 50 Millionen Franken. Dennoch erkrankten weiter zahlreiche Arbeiter und Bewohner in der Umgebung von Eternit-Produktionsstätten in Italien. 1986 gingen die Werke schliesslich Konkurs, da sich die Produktion mit Ersatzfasern laut Schmidheiny nicht gerechnet hat.
Tausende Opfer in der Schweiz
Auch in zahlreichen Schweizer Betrieben waren Arbeiter Asbest ausgesetzt. Anders als in Italien sind die Fälle meist strafrechtlich verjährt. Bis 2009 sind allein in den früheren Eternit-Werken in Niederurnen GL und Payerne VD rund 75 Mitarbeiter an den Spätfolgen einer Asbestexposition gestorben. Neuere Zahlen für diese Standorte gibt die SUVA mit Verweis auf den Datenschutz nicht heraus.
Die Schweizer Opferorganisation Caova (Komitee zur Hilfe und Orientierung von Asbestopfern) spricht von einer weit grösseren Zahl von Menschen, die aufgrund ihrer Arbeit in den Werken krank geworden sind. Über 7000 Menschen hätten insgesamt an den beiden Standorten gearbeitet, sagte François Iselin von Caova 2009 gegenüber der Nachrichtenagentur SDA: «Und es tauchen immer neue Todesfälle auf bei Menschen, die beruflich dem Asbest ausgesetzt waren».
Strafrechtlich verjährt
Nicht nur in den Eternit-Werken, sondern auch in vielen anderen Schweizer Betrieben wurde teilweise bis Anfang der 1990er Jahre Asbest bearbeitet oder verwendet. Oft waren es auch italienische Gastarbeiter, die mit der feinen Faser des Baustoffs in Kontakt kamen. Um sie zu erreichen, lancierte die SUVA 2010 eine Kampagne mit Flyern auf italienisch, damit sie sich medizinisch untersuchen lassen. Nötig sind solche Sensibilisierungsmassnahmen, da viele Betroffene nicht über das Asbest-Risiko an ihrem ehemaligen Arbeitsplatz informiert waren.
Strafrechtlich können die Verantwortlichen der Unternehmen auch bei einer allfälligen Sorgfaltsverletzung nicht mehr belangt werden - denn in der Schweiz beginnt die Verjährung dann zu laufen, wenn der mutmassliche Täter die Handlung ausführt und nicht beim Eintritt der Folgen, urteilte das Bundesgericht. Es wies deshalb im August 2008 Anzeigen von Angehörigen zweier verstorbener Eternit-Arbeiter und eines verstorbenen Anwohners von Niederurnen unter anderen gegen die Gebrüder Thomas und Stephan Schmidheiny definitiv ab.
Streit um Versicherungsleistungen
Für die Geltendmachung von Leistungen bei der SUVA gibt es dagegen keine Verjährungsfrist. Um mögliche asbestbedingte Berufskrankheiten zu erfassen, rät die SUVA, dass sich auch pensionierte Arbeitnehmende melden bzw. dass der behandelnde Arzt den Fall meldet. Es muss jedoch gemäss SUVA zwingend ein Zusammenhang zwischen der Erkrankung und der beruflichen Tätigkeit bestehen. Dieser Nachweis ist nicht immer einfach zu erbringen und beschäftigt immer wieder die Gerichte.
Coava beklagt denn auch, dass bei vielen Arbeitern eine späte Erkrankung nicht als Berufskrankheit anerkannt werde und spricht von einem permanenten Kampf mit der SUVA um die Anerkennung ihrer Rechte. Die Beweisführung ist häufig schwierig, da die Krankheiten meist erst Jahrzehnte nach der Exposition ausbrechen (siehe Infobox). Die SUVA wehrt sich gegen den Vorwurf, sie sei zu restriktiv bei der Anerkennung von Asbest-Fällen und verweist auf klare internationale Kriterien, nach denen sie die Fälle beurteilt.
Jährlich sterben in der Schweiz laut SUVA-Angaben rund 100 Menschen an den Folgen einer Asbest-Exposition. Opferorganisationen sprechen von bis zu 300 Fällen. Zwischen 1939 und 2009 anerkannte die SUVA rund 2800 Fälle von asbestbedingten Berufskrankheiten. Bis heute sind mehr als 1300 Berufstätige an den Folgen einer asbestbedingten Erkrankung gestorben. Die Versicherung zahlte über 600 Millionen Franken aus, meist als Renten an Hinterbliebene. Im Durchschnitt der vergangenen 10 Jahre wurden jährlich rund 175 Fälle von Asbestkrankheiten neu anerkannt. (jcg/sda)
Vom Wundermittel zum Killer
Asbeste sind eine Gruppe von mineralischen Fasern, die in Serpentin- und Hornblendehaltigem Gestein vorkommen. Chemisch gehört Asbest in die Gruppe der Silikate. Es ist hitzebeständig bis 1000 Grad Celsius, resistent gegenüber einer Reihe aggressiver Chemikalien, hat eine hohe elektrische und thermische Isolierfähigkeit, weist hohe Elastizität und Zugfestigkeit auf und lässt sich gut in verschiedene Bindemittel einarbeiten.
Seinen einzigartigen Eigenschaften verdankte Asbest seit ca. 1930 seine weitverbreitete Verwendung in der Industrie. Jahrzehntelang galt Asbest als das Material der tausend Möglichkeiten, da er wie keine andere Faser für viele technische Produkte optimale Eigenschaften besitzt. Asbesthaltige Produkte wurden eingesetzt als Platten, Matten oder Formmassen für den Brandschutz und die Wärmeisolation, als Brems- und Kupplungsbeläge im Fahrzeugbau sowie als Dichtungen bei hohen thermischen oder chemischen Beanspruchungen.
Asbest führt zu einer Gefährdung, wenn Feinstaub von Asbest durch die Atmung in die Lungenbläschen gelangt. Bereits geringe Asbestfeinstaubkonzentrationen in der Luft können das Risiko der Entstehung eines Mesothelioms (Tumor des Brust- oder Bauchfells) oder von Lungenkrebs fördern. Zu den asbestbedingten Krankheiten zählen: Bindegewebsvermehrung im Bereich des Brustfells, Asbestose (Asbeststaublunge), Lungenkrebs und bösartige Tumoren des Brustfells oder des Bauchfells. Vom Einatmen bis zum Ausbruch der Krankheit können 40 Jahre und mehr vergehen. (Quelle: SUVA)