Doppeladler-Affäre«Nationalismus ist ein Übel in der Geschichte. Punkt.»
Wie ist die Doppeladler-Affäre zu bewerten? Zwei Wissenschaftler mit Wurzeln im Balkan kommen zu teils unterschiedlichen Schlüssen.
Warum haben Shaqiri und Xhaka die Doppeladler-Geste gemacht?
Nenad Stojanovic: Ihre wahren Intentionen werden wir wohl nie kennen. Wichtig sind aber ihre Botschaft und die völlig vorhersehbaren Reaktionen, die sie ausgelöst haben.
Samuel M. Behloul: Um diese Fragen exakt beantworten zu können, müsste man in die Köpfe einzelner Spieler hineinschauen können, und das können wir nicht. Aber gut, fest steht, dass eine solche Geste von einem kolumbianischen oder etwa von einem Spieler aus Südkorea nicht kommen wird.
War das ein politisches Statement oder purer Ausdruck von Freude?
Nenad Stojanovic: In diesem spezifischen Kontext und mit Hinblick auf die jüngste Balkangeschichte war das klar ein ethnonationalistisches und in dem Sinne auch ein politisches Statement. Die Freude drücken die beiden Spieler in der Regel anders aus: Dies lässt sich auch ganz einfach daran erkennen, dass sie diese Geste in anderen Spielen nicht benutzt haben.
Samuel M. Behloul: Die Geste hat zweifelsohne zunächst mit der Herkunft beider Spieler zu tun. Und das bestreiten die beiden ja auch nicht. Die Geste sei, wie sie es sagten, ein emotionaler Ausdruck gewesen, eine Art Dankeschön an alle Menschen von denen man sich während dem Spiel unterstützt und getragen fühlte – von den eigenen Familienangehörigen in der Schweiz bis hin zu den Menschen im Herkunftsland Kosovo. So betrachtet war die Geste mehr als blosse Freude über das erzielte Tor.
Was war die genaue Botschaft dieser Geste?
Nenad Stojanovic: Im besten Fall war das eine spontane Reaktion auf die ebenso inakzeptablen Beschimpfungen der serbischen Nationalisten im Stadion. Was uns vielleicht erlaubt, die Geste zu verstehen, aber nicht, sie zu rechtfertigen. Im schlimmsten Fall war das eine abgesprochene, bewusste und gezielte Geste mit dem Ziel, die Gegner zu provozieren und die Superiorität der eigenen Ethnie zu betonen.
Samuel M. Behloul: Die Geste zeigt auch, dass junge Menschen mit kosovo-albanischen Wurzeln in der Schweiz auch ein gutes Stück der Lebensgeschichte ihrer Eltern mit sich tragen, die ohne die jüngste Vergangenheit des Herkunftslandes Kosovo für die Aussenstehenden kaum verständlich ist. Und dieses Phänomen lässt sich bei allen Menschen mit Migrationshintergrund beobachten. Wie sich eine Migrantengemeinschaften in ihrer Residenzgesellschaft entwickelt, hängt, wie es die zahlreichen migrationssoziologischen Studien zeigen, von zwei wesentlichen Faktoren ab: von der Art und Weise wie die jeweilige Gemeinschaft von der Mehrheitsgesellschaft wahrgenommen wird einerseits und von der sozio-politischen Entwicklung im Herkunftsland andererseits. Und wenn man bedenkt, das gerade die jungen Albaner immer wieder als angeblich die problematischste Community in der Schweiz skandalisiert werden, lässt sich die Doppeladler-Geste auch als Ausdruck des Stolzes interpretieren, dass man eben gerade als ‹unbeliebter Albaner› die entscheidenden Tore für die Schweiz bei der WM geschossen hat. In meiner Wohngemeinde im aargauischen Reinach konnte man beobachten wie an jenem Abend junge Schweizerinnen und Schweizer, mit und ohne kosovo-albanische Herkunft, mit Schweizer und albanischen Fahnen jubelnd und hupend durch die Strassen zogen. Und die Kroaten in der Schweiz sind wiederum stolz, dass der Trainer Vladimir Petkovic kroatischer Herkunft ist. Fussball kann also in unerwarteter Weise Menschen zusammenbringen.
Mitspieler, Politiker, sogar Bundesräte solidarisieren sich mit den beiden; die Fifa leitet ein Verfahren ein – wer hat recht?
Nenad Stojanovic: Nationalismus ist ein Übel in der Geschichte der Menschheit. Punkt. Ich kann verstehen, wenn man jetzt versucht, die Lage zu entdramatisieren. Ich habe aber kein Verständnis dafür, wenn man sich mit solchen Gesten solidarisiert.
Samuel M. Behloul: Die Fifa verbietet generell politische und religiöse Botschaften mit provokativem Charakter auf dem Fussballfeld. Das ist meines Erachtens korrekt und sollte befolgt werden. Nun stellt sich andererseits die Frage, ab wann eine Geste als explizit politische oder religiöse Botschaft bzw. als zu verbietende Provokation zu interpretieren ist. Wenn sich beispielsweise südeuropäische oder südamerikanische Spieler bekreuzen, sei es vor dem Betreten des Rasens, sei es vor einem Freistoss oder sei es nach einem erzielten Tor, sollen dann muslimische oder atheistische Spieler auf dem Feld dies als religiöse Provokation verstehen? Der Doppeladler als albanisches Wappentier ist kein verbotenes Symbol. In Serbien etwa sieht man es täglich auf der albanischen Fahne der albanischen Botschaft in Belgrad. Und sollte die serbische Nationalmannschaft demnächst gegen Albanien antreten, werden die Spieler 90 Minuten lang das gleiche Symbol permanent zu sehen bekommen. Symbolische Gesten lassen immer viel Interpretationsraum und hier sollte man immer vorsichtig abwägen und nicht einfach pauschal politisieren, was im konkreten Fall leider der Fall ist.
Manche Schweizer berichten, sie hätten sich in dem Moment gefühlt, wie wenn die Freundin wieder zum Ex gezogen wäre. Verstehen Sie das?
Nenad Stojanovic: An dem Abend habe auch ich für die Schweiz gejubelt. Nach dem ersten Goal habe ich die Geste von Xhaka nicht einmal bemerkt. Nach dem Goal von Shaqiri war sie aber klar und ich bin mit einem sehr bitteren Nachgeschmack heimgegangen. Man soll von den Spielern mit Migrationshintergrund nicht verlangen, dass sie die eigene komplexe Identität nur auf das Schweizersein reduzieren. Alles hängt aber davon ab, wie und in welchem Kontext man die eigenen Gefühle äussert.
Samuel M. Behloul: Das ist die klassische Loyalitätserwartung, die man an die Menschen mit Migrationshintergrund permanent stellt, von ‹eigenen› Leuten aber kaum erwartet. Migranten und ihre Nachkommen sind offenbar eine Anfrage an die etablierte Gesellschaft: was ist eigentlich Schweizerisch im 21. Jahrhundert und wer und wie ist der ideale Schweizer/Schweizerin im 21. Jahrhundert? Bei der aktuellen Diskussion um die Doppeladler-Geste kann man das exemplarisch beobachten. Die einen stört der Doppeladler, die anderen fragen sich generell, ob das noch eine echte Schweizer Mannschaft sei in Anbetracht so vieler nichtschweizerischer Namen ihrer Spieler und es gibt schliesslich solche, die von den Spielern einfach nur Tore sehen wollen. Und aus Zürcher Perspektive könnte man auch bemängeln, dass in der Nati die Spieler mit Basler-Hintergrund zu stark dominieren.
Shaqiri zog noch das (Schweizer) T-Shirt aus – im vollen Bewusstsein, dass er damit gelb kassiert und damit die Team-Chancen im Turnier gefährdet – ist das fast das problematischere Zeichen?
Nenad Stojanovic: Das ist problematisch auf einer anderen Ebene. Es ist unfair gegenüber den anderen Spielern und zeigt wenig Respekt vor den harten monatelangen Vorbereitungen, die dazu dienen, dass das Nationalteam das bestmögliche Ergebnis an der WM erzielt.
Samuel M. Behloul: Genau. Das kann sich für das weitere Vorankommen der Nati als viel schwerwiegender erweisen, als irgendwelche Gesten einzelner Spieler.
Ist Fussball, um überhaupt funktionieren zu können, nicht letztlich auf archaische nationalistische Gefühle angewiesen?
Nenad Stojanovic: Ein gesunder und nicht gegen die Anderen gerichteter Patriotismus gehört sicher zu einer WM. Man beginnt ja jeden Match mit den Nationalhymnen und die Fahnen dürfen nicht fehlen. Gezielte Provokationen und aggressiver Ethnonationalismus hingegen sind fehl am Platz.
Samuel M. Behloul: Der moderne Fussball funktioniert in erster Linie über das ganz grosse Geld und begnadete Spieler und steht als solcher über Religion und Nation. Dass bei grossen Tunieren wie die EM oder WM auch besondere Gefühle ins Spiel kommen, lässt sich nicht vermeiden. Schliesslich werden Nationalhymnen gespielt, die Spieler tragen nationale Symbole auf ihren Trikots und ganze Nationen erwarten von ihnen wahre Wunderwerke. Aber gerade der moderne Fussball im Zeitalter der Migration und Globalisierung zeigt, dass man die Identität und die Erfolgschansen einer Nationalmannschaft nicht über eine ein für allemal definierte Identität oder Abstammung bestimmen kann. Ohne ihre aus Nordafrika stammenden Spieler wäre beispielsweise Frankreich vermutlich nie WM- und EM-Sieger (98 und 2000) hintereinander geworden. Und ohne ihre Kosovo- oder Bosnien-stämmigen Spieler und dem kroatischstämmigen Trainer stünde die Schweizer Nati heute nicht da, wo sie jetzt steht und als solche den allermeisten Menschen in unserem Land grosse Freude bereitet. Vielleicht ist gerade der heutige Fussball, diese, wie man sich noch bezeichnet, wichtigste Nebensache der Welt, der eigentliche Vorbote einer Welt, in der man nationale Identitäten, Zugehörigkeiten und Loyalitäten wird ganz anders definieren müssen.
Welche Spielregeln sollen für den Fussball-Nationalismus gelten?
Nenad Stojanovic: Gesunder Menschenverstand und Respekt gegenüber dem Gegner. Sich die Hand nach dem Spiel reichen. Genau wie das der Schweizer und der serbische Nationaltrainer gemacht haben. Beide stammen übrigens aus Bosnien und sind sich wohl mehr als ihre Spieler bewusst, wie explosiv nationalistische Spannungen werden können.
Samuel M. Behloul: Neben die Spielregeln, die das Spiel als solches direkt betreffen gilt es auch die Spielregeln des gegenseitigen Umgangs immer wieder neu zu bestimmen. Auch in den Fussballclubs und Nationalmannschaften braucht es in Anbetracht der kulturellen und religiösen Pluralisierung der Gesellschaft, ähnlich wie in anderen öffentlichen Institutionen, ein sensibles Diversity-Management.

Samuel M. Behloul
Prof. Dr. Samuel M. Behloul ist Fachleiter für der Bereich Christentum am ZIID Zürcher Institut für interreligiösen Dialog. Er studierte katholische Theologie, Arabistik und Islamwissenschaft in Luzern und in Berlin. Während seiner langjährigen Lehr- und Forschungstätigkeit an der Universität Luzern beschäftigte er sich mit der Frage nach dem Verhältnis von Religion, Kultur und Ethnizität im Kontext der Migration mit besonderem Fokus auf die Migranten aus dem ehemaligen Jugoslawien in der Schweiz.

Nenad Stojanovic
Nenad Stojanovic, 42, ist in Sarajevo geboren und lebt seit 1992 in der Schweiz. Er ist Politolge an der Universität Luzern und demnächst SNF-Professor an der Universität Genf. Nationalismus und Multikulturalismus gehören zu seinen Forschungsfeldern. Zwischen 2007 und 2013 war er SP-Grossrat im Kanton Tessin.