Hikikomori-Syndrom - So ticken sozial Isolierte

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Hikikomori-Syndrom«Dröhnen sich zu, um Probleme zu verdrängen»: So ticken sozial Isolierte

Sie sind intelligent, gut in der Schule, sehr jung – und geraten in soziale Isolation: So geht es immer mehr Schweizer Jugendlichen. Eine Psychotherapeutin erklärt, was Eltern tun können.

von
Thomas Sennhauser

Darum gehts

  • Immer mehr Schweizer Jugendliche isolieren sich sozial: Sie gehen nicht mehr zur Schule und verbringen sehr viel Zeit in ihren Zimmern. 
  • Betroffen sind vor allem hochintelligente Buben, die sozial schlecht integriert sind. 
  • Eine Psychotherapeutin erklärt, wie es diesen Kindern geht – und was die Eltern tun können, damit es nicht so weit kommt. 

Immer mehr Jugendliche in der Schweiz ziehen sich aus der Gesellschaft zurück und verschanzen sich im Zimmer. Betroffen sind vor allem Buben, sie sind oft hochintelligent und die Jüngsten unter ihnen sind erst elf Jahre alt.

Auch die Psychotherapeutin Dr. phil. Margareta Reinecke stellt bei Jugendlichen in ihrer Praxis eine Zunahme des sogenannten «Hikikomori-Syndroms» fest. Gegenüber 20 Minuten erklärt sie, wie Eltern betroffenen Kindern helfen können.

Frau Reinecke, welche Gründe könnten für eine Zunahme dieses Phänomens bei Kindern verantwortlich sein?

Die digitalen Medien und Social Media haben seit ihrer Einführung sicherlich dazu beigetragen, dass immer mehr Kinder sozial «verkümmern» und sich einigeln. Das Ständig-am-Handy sein, und zwar durch alle Beteiligten, Erwachsene, Jugendliche und Kinder, reduziert die Kommunikationsfähigkeit mit den Mitmenschen.

Was macht das mit den Kindern?

Diese Kommunikation ist enorm wichtig, da ein kindliches Gehirn sehr formbar ist und bereits gebildete Gehirnstränge nicht mehr rückgängig gemacht werden können. Genauso sind aber auch ihre Eltern und ihr Umfeld verantwortlich, da auch sie durch das Handy abgelenkt werden, während diese sich eigentlich bei gemeinsamen Unternehmungen vollends auf die Kinder fokussieren sollten. Es spielt also vielmehr eine Rolle, wie die digitalen Medien genutzt werden. Das Umfeld hat einen viel grösseren Einfluss auf das Kind als die digitalen Medien selbst.

Ist nur Social Media schuld?

Nein. Zusätzlich denke ich, dass heutzutage ein viel grösserer Druck herrscht, sich sozial irgendwo einzufügen. Entweder man gehört dazu oder nicht. Früher habe ich das in der Gesellschaft weniger stark empfunden.

Was tun sozial isolierte Jugendliche den ganzen Tag?

Hier muss man unterscheiden: Es gibt die angesprochenen sozial verkümmerten Jugendlichen, die sich mit Unterhaltungsmedien zudröhnen, um ihre sozialen Probleme zu betäuben und oft nicht merken, dass sie darunter leiden.

Dann gibt es aber andere, die sich bewusst alleine in ihrem Zimmer aufhalten und sich daran erfreuen. Die sich für ein bestimmtes Thema wie beispielsweise Dinosaurier interessieren und es sie glücklicher macht, stundenlang in Büchern über Dinosaurier zu schmökern als in einen sozialen Kontakt zu treten. Solche Personen sind nicht vom Hikikomori-Syndrom betroffen.

Ab welchem Zeitpunkt sollte man bei jungen Menschen eingreifen?

Wenn das Kind nicht mehr ansprechbar ist und man selbst sowie Kollegen und Verwandte keinen Zugang mehr zum Jugendlichen herstellen können. Wenn das Kind jegliche gemeinsame Tätigkeiten verweigert und man beispielsweise das Mittagessen vor die Zimmertür stellen muss. Auch eine markant schlechter werdende Körperpflege ist ein Anzeichen für ein Hikikomori-Syndrom beim Kind.

Was können Eltern selbst im Alltag tun, um betroffenen Kindern zu helfen?

Den Kindern zuhören. Solche Kinder brauchen Aufmerksamkeit, auch wenn sie dies zuerst nicht zugeben. Wenn es noch möglich ist, mit ihnen etwas zu unternehmen, sollte man währenddessen seine volle Aufmerksamkeit auf das Kind legen und sich nicht durch sein Handy oder Sonstiges ablenken lassen. Man muss sich in die Welt seines Kindes reindenken können und sollte echtes Interesse an den Tätigkeiten des Kindes zeigen. Andersartigkeit versuchen zu verstehen und nicht das ganze Verhalten des Kindes zu verurteilen. Am besten wäre es, gemeinsame Strategien zu entwickeln. Beispielsweise eine Regel einführen, in der das Kind während zwei Stunden die Zimmertür offenlassen muss.

Hast du dich auch schon zurückgezogen? 

Hast du oder hat jemand, den du kennst, eine Depression?
Hier findest du Hilfe:
Pro Mente Sana, Tel. 0848 800 858
Kinderseele Schweiz, Beratung für psychisch belastete Eltern und ihre Angehörigen
Verein Postpartale Depression, Tel. 044 720 25 55
Angehörige.ch, Beratung und Anlaufstellen
VASK, regionale Vereine für Angehörige
Pro Juventute, Beratung für Kinder und Jugendliche, Tel. 147
Dargebotene Hand, Sorgen-Hotline, Tel. 143

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