Familienstreit: Wann ein Kontaktabbruch sinnvoll ist

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VerwandtschaftExpertin erklärt: «Kontaktabbruch passiert nie leichtfertig»

Erwartungen, die nicht erfüllt werden, Kommunikation, die fehlt: Eine Expertin erklärt, warum es in Familien kracht – und wann ein Kontaktabbruch sinnvoll sein kann.

Darum gehts

  • Nicht immer bleibt es in Familien harmonisch.
  • Manche Familienmitglieder haben über Jahre keinen Kontakt.
  • Isabella Vidmar ist psychologische Beraterin und erklärt, warum Konflikte eskalieren und wie man mit einem Kontaktabbruch umgeht.

Familienmitglieder gehören zu den engsten Bezugspersonen. Sie kennen einen oft besser als die meisten Freunde. Doch nicht immer bleibt es in Familien harmonisch. Manche Kinder haben seit 20 Jahren keinen Kontakt mehr zur Mutter. Die psychologische Beraterin Isabella Vidmar erklärt, warum Konflikte eskalieren und wie man mit einem Kontaktabbruch umgeht.

20 Minuten hat mit Betroffenen gesprochen, die den Kontakt zu Familienmitgliedern abgebrochen haben. Den Artikel kannst du hier nachlesen.

Frau Vidmar, Sie beraten oft Familien. Wie erleben Sie familiäre Konflikte in Ihrem Beruf?
Wenn Familien zu mir kommen, steckt fast immer ein langer Konflikt dahinter. Oft geht es um Generationenkonflikte: Eltern wollen ihre Werte und Haltungen weitergeben, Kinder fühlen sich verantwortlich für das Wohl ihrer Eltern. Missverständnisse entstehen, weil Vorstellungen aufeinanderprallen, die sich nicht vereinbaren lassen.

Kinder hören zum Beispiel: «Du bist mir etwas schuldig.» Viele Eltern glauben, ihr Kind müsse bestimmte Erwartungen und Zukunftsvorstellungen erfüllen – nur weil es ihr Kind ist. Geht das Kind dann eigene Wege – bei Karriere, Lebensstil oder sexueller Orientierung –, kommt es zum Streit.

Zur Expertin

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Isabella Vidmar ist psychologische Beraterin und betreibt eine eigene Praxis in Zürich.

Ein Beispiel: Die Tochter ist 30, das Verhältnis zur Mutter war okay. Plötzlich aber kommen Vorwürfe aus der Kindheit.
Die grössten Konflikte entstehen oft dort, wo nicht gesprochen wird – über Gefühle, Erwartungen oder die gemeinsame Geschichte. Die Mutter denkt vielleicht: «Ich habe doch nur mein Bestes gegeben», ohne zu hinterfragen, ob es auch das Beste für die Tochter war.

Vielleicht hat die Mutter selbst nur Zuneigung erfahren, wenn sie etwas geleistet hat, und ihre Wertvorstellung, die sie als Liebe deklariert, an ihr Kind weitergegeben. Die Erziehung war von Druck, Kritik, eventuell mit Einsatz von Liebesentzug als Strafe geprägt. Die Tochter hingegen versteht unter Liebe etwas anderes und wünscht sich mehr körperliche Zuneigung und Anerkennung – und dies nicht nur für Leistung.

Was kann in solch einer Situation helfen?
Ein Mediator oder eine Beratung können helfen, neue Blickwinkel einzunehmen. Eltern sollten lernen zuzuhören – nicht zu rechtfertigen –, ebenso auch die Kinder. Auf eigene Meinung beharren ist nicht zielführend, sondern kann die Fronten weiterhin verhärten.

«Eltern müssen akzeptieren, dass Kinder ihren Weg gehen – auch ohne sie.»

Und wenn gar nichts mehr geht?
Ein Kontaktabbruch passiert nie leichtfertig. Meist haben die Betroffenen viele Versuche gemacht, um die Beziehung zu retten. Wenn aber nur noch Vorwürfe im Raum stehen und Gespräche nicht mehr möglich sind, kann Distanz sinnvoll sein – zum Selbstschutz. Wichtig ist, dass man sich fragt: Was will ich von dieser Beziehung? Tut sie mir gut?

Die ältere Generation wuchs anders auf als etwa die Generation Z.
Vieles ist im Wandel – etwa patriarchale Strukturen. Väter zeigen heute mehr Emotionen, sie engagieren sich mehr in der Familie. Gleichzeitig herrscht Verwirrung über Rollenbilder – wenn etwa eine Tochter sich vom Vaterbild löst oder ein Sohn Männlichkeit neu definiert. Das kann für Reibung sorgen.

«Wut kann helfen, sich abzugrenzen und sich zu lösen.»

Auch umgekehrt: Kinder wollen nur das Beste für ihre Eltern, wenn diese älter werden, oft ohne die Wünsche der Eltern zu berücksichtigen. Beispielsweise haben die Kinder ihre Vorstellung, wie die Eltern ihre Pensionierung gestalten sollen, fangen an, sie zu bevormunden, und berauben sie ihrer Autonomie. Es ist schwierig, aber wichtig, das Gespräch zu suchen – ohne Druck, mit Fürsorge.

Gibt es einen Weg, mit der Vergangenheit Frieden zu schliessen?
Wut kann helfen, sich abzugrenzen und sich zu lösen. Doch man sollte sich fragen: Was will ich von dieser Beziehung? Kann ich sie weiterführen, oder ist Abstand besser? Ein Kontaktabbruch ist immer schmerzhaft. Er hinterlässt eine Wunde. Aber manchmal ist es der einzige Weg, um sich selbst zu schützen. Auch ein Kontaktabbruch kann aus Liebe geschehen – zur eigenen Gesundheit.

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Anja Zobrist (zoa) ist Redaktorin und Content Creator im Ressort News und Gesellschaft. Das Journalistenhandwerk erlernte sie an der Ringier Journalistenschule in Zürich. Anschliessend absolvierte sie den CAS Innovation im Journalismus an der ZHAW Winterthur und dem MAZ Luzern.

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