Gastronomie: Trinkgeld-Funktion spaltet die Gemüter

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Prozentanzeige«Es bringt wirklich etwas – für die Menschen, die hier arbeiten»

Kartengeräte mit automatischen Trinkgeldvorschlägen sorgen für hitzige Diskussionen – vor allem im Take-Away-Bereich: Die Gäste finden die digitale Anzeige teils unverschämt, Gastroangestellte verteidigen die Praxis.

Darum gehts

  • Digitale Trinkgeldvorschläge auf Kartengeräten polarisieren Gäste und Personal.
  • Gäste kritisieren die Praxis als aufdringlich, während Angestellte den Mehrverdienst begrüssen.
  • In vielen Betrieben habe sich das Trinkgeld seit der Einführung der Geräte erhöht, sagen Mitarbeitende gegenüber 20 Minuten.
  • Die Funktion bleibt freiwillig, betonen die Gastronomen.

Fünf, zehn oder fünfzehn Prozent – wer heute beim Glacé-Stand, Wurstgrill oder Kaffee-Takeaway mit Karte bezahlt, wird oft mit einer automatisierten Anzeige zur Trinkgeldgabe aufgefordert. Viele Gäste stören sich an der schleichenden «Amerikanisierung» der Trinkgeldkultur, andere finden es unkomplizierter als vorher.

Zur Kritik will sich Gastrosuisse nicht äussern. Vonseiten des Verbands heisst es schlicht, Trinkgeldgeben sei freiwillig und die Programmierung der Kartenterminals und Handhabung des Trinkgelds lägen in der unternehmerischen Freiheit der Betriebe. Für das Personal ist hingegen klar: «Wir wollen die Trinkgeldfunktion nicht mehr missen

Claire (28) steht hinter dem Bartresen des «Bridge» an der Zürcher Europaallee. Viele Gäste holen bei ihr einen Drink und setzen sich nach draussen. Das Glas räumen sie selber ab. Als Serviceleiterin kennt sie die Abläufe im Betrieb – und die Diskussionen um Trinkgeld. «Wir haben wirklich dafür kämpfen müssen, bis wir Kartenlesegeräte mit prozentualer Trinkgeldangabe bekommen haben», sagt sie. Lange habe sie die Migros als Mutterkonzern gebremst. Per 1. Januar wurde das Bridge verkauft – und das System installiert.

«Die Mehrheit hat kein Problem mit den Geräten»

Was auf manche Gäste wie Druckausübung wirke, bedeute für die Mitarbeitenden mehr Verdienst, sagt Claire. «Seit der Einführung sehen wir rund 150 Franken mehr pro Monat – das ist enorm viel bei den eher geringen Gastrolöhnen.» Das Trinkgeld werde durchs ganze Haus verteilt – an Küche, Barteam und Reinigung.

Claire: «In den ersten Wochen war es vielen Angestellten etwas peinlich – aber man gewöhnt sich dran. Und am Ende zählt: Es bringt wirklich etwas – nicht für die Geschäftskasse, sondern für die Menschen, die hier arbeiten.»
Claire: «In den ersten Wochen war es vielen Angestellten etwas peinlich – aber man gewöhnt sich dran. Und am Ende zählt: Es bringt wirklich etwas – nicht für die Geschäftskasse, sondern für die Menschen, die hier arbeiten.»20 Minuten

Auch der Zürcher Traditionsbetrieb Sternen-Grill hat die Prozentanzeige auf seinen Geräten – und ist zufrieden damit. «Seit der Corona-Pandemie zahlten fast alle mit Karte – und es kam kaum noch Trinkgeld.» Als ein Terminalhersteller dann vor zwei Jahren ein System mit Prozentanzeige vorstellte, habe Geschäftsführer Thomas deshalb gedacht: «Warum nicht? Wir können es ja mal ausprobieren.» Seither sei das Trinkgeld massiv gestiegen.

«Wir hören ab und zu, dass sich jemand aufregt, aber das sind Einzelfälle.» Die Mehrheit habe kein Problem mit den Kartenlesegeräten. «Man vergisst, dass viele Leute gerne Trinkgeld geben. Und die können das mit dem neuen System viel einfacher», so der stellvertretende Geschäftsführer Stefano. Und: «Jede und jeder kann einfach ‹Überspringen› drücken, der Button ist sogar grösser als die mit der Trinkgeldangabe.»

Laut Geschäftsführer Thomas (links) und stellvertretendem Geschäftsführer Stefano (rechts) ist das Trinkgeld seit der Einführung der automatisierierten Aufforderung massiv gestiegen.
Laut Geschäftsführer Thomas (links) und stellvertretendem Geschäftsführer Stefano (rechts) ist das Trinkgeld seit der Einführung der automatisierierten Aufforderung massiv gestiegen.20 Minuten

«Trinkgeld ist politisch»

Ein Mitarbeiter eines Burgerladens im Zürcher Niederdorf macht hingegen schlechte Erfahrungen, die Anzeige drückt er deshalb oft weg. «Die Leute meckern, dass der Burger eh schon teuer sei und sie alles selber holen müssen.» Trotzdem bewähre sich das System finanziell. Seit der Einführung vor einem Jahr sei das Trinkgeld deutlich gestiegen.

Ein ähnliches Bild zeigt sich in einer Bar im Kreis 5, in der sich die Gäste an der Theke ihre Getränke holen. «Trinkgeld ist politisch», sagt ein Angestellter trocken. Oft gebe es von den Skeptikern Grundsatzkritik – etwa, dass Löhne ausreichend hoch sein müssten und Trinkgeld überflüssig sei. «Da stimme ich voll zu. Aber die Realität ist eine andere. Das mediane Schweizer Einkommen liegt bei über 85’000 Franken im Jahr – wir sind davon weit entfernt.»

Kritik höre er von den Gästen kaum. «Wir haben viel junge Kundschaft, die nimmt die Prozentfunktion positiv auf.» Sie hätten sich sogar eher beschwert, wenn er die Anzeige weggedrückt habe. «Mir war es am Anfang nämlich ziemlich unangenehm.»

Unia: «Die Branche muss sich so aufstellen, dass man von einem Gastrojob leben kann – ohne dass die Kundschaft indirekt für einen Teil eines ausreichenden Lohns aufkommen muss.»
Unia: «Die Branche muss sich so aufstellen, dass man von einem Gastrojob leben kann – ohne dass die Kundschaft indirekt für einen Teil eines ausreichenden Lohns aufkommen muss.»20 Minuten

«Erst ist es allen peinlich – aber es hilft enorm»

Dieses Unbehagen kennt auch Claire aus dem «Bridge». «In den ersten Wochen war es vielen etwas peinlich», sagt sie. Manche Gäste schauten irritiert, kommentierten oder drückten demonstrativ auf «kein Trinkgeld». Für Angestellte könne das unangenehm sein. «Aber man gewöhnt sich dran. Und am Ende zählt: Es bringt wirklich etwas – nicht für die Geschäftskasse, sondern für die Menschen, die hier arbeiten.»

Was alle Gastronomen betonen: Auch wenn die Funktion dominant wirken kann – sie ist freiwillig. «Niemand ist böse, wenn man nichts gibt», betont Claire. «Aber wer möchte, kann es unkompliziert tun – und das hilft uns enorm.» Auch Stefano vom «Sternengrill» sagt: «Es ist kein amerikanischer Zwang – niemand verlangt 20 Prozent auf den Kaffee.»

«Arbeitgeber dürfen Trinkgeld nicht als Entschuldigung nutzen»

Die Gewerkschaft Unia betont: «Die Löhne in der Gastro-Branche sind tief – mit EFZ liegt man bei 4500 Franken brutto, ohne Ausbildung sogar nur bei 3700 Franken», sagt Sprecher Philipp Zimmermann. Demnach sei Trinkgeld ein willkommener Zustupf. Digitale Lösungen wie automatisierte Prozentanzeigen könnten helfen, dem Rückgang bei Bargeld-Trinkgeldern, wie ihn viele Läden meldeten, entgegenzuwirken – auch im Take-Away-Bereich.

Aber: «Arbeitgeber dürfen Trinkgeld nicht als Entschuldigung nutzen, um tiefe Löhne zu zahlen. Die Branche muss sich so aufstellen, dass man von einem Gastrojob leben kann – ohne dass die Kundschaft indirekt für einen Teil eines ausreichenden Lohns aufkommen muss», betont Zimmermann. Aus Sicht der Gewerkschaft ist klar: «Es braucht bessere Löhne, attraktivere Bedingungen – das ist der einzige Weg, um langfristig Personal zu halten und die Branche zukunftsfähig zu machen.»

Wie beeinflussen digitale Trinkgeldvorschläge dein Trinkgeldverhalten?

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Carolin Teufelberger (cat) arbeitet seit 2024 für 20 Minuten als Redaktorin beim Ressort News, Wirtschaft & Videoreportagen.

Lynn Sachs (sac) arbeitet seit 2020 für 20 Minuten. Seit November 2025 ist sie stellvertretende Leiterin im Ressort News, Wirtschaft & Videoreportagen.

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