Fall Kampusch – Teil 5Der Druck auf Dauerlügner Ernst H. nimmt zu
Ernst H. widerspricht seinen ersten Aussagen von 2006 drei Jahre später komplett. Auch seine neue Geschichte ist widersprüchlich – doch von der Justiz wurde er noch nie befragt.
Die erste Reaktion von Ernst H.*, als ihm zwei Polizisten am späten Abend des 23. August 2006 vom Tod seines besten Freundes Wolfgang Priklopil berichten wollten, hatte ihn schon verdächtigt gemacht: «Hot ers umbrocht?», fragt er, als Chefinspektorin Margit Wipfler ihm die traurige Nachricht überbringen wollte. Die Polizistin war perplex. Der Mann, der vor ihr stand, «zuckte merklich zusammen», wirkte auffallend nervös und hatte Schweissausbrüche. Daraufhin informiert sie H., den Geschäftspartner des Verstorbenen, «dass es sich hier um eine der wichtigsten Amtshandlungen in Österreich handelt» (siehe Bildstrecke, Dokument 1, 2 und 3).
Wenige Tage später berichtet Wipfler über das skurrile Treffen: «Da sich Ing. H. im Zuge der Fragen immer aufgebrachter verhielt, machte ich ihn darauf aufmerksam, dass er im Moment noch immer ‹Zeuge› sei, wenn er sich so weiter präpotent verhält, sich dieser Umstand in der Minute ändern kann und er festgenommen wird.» Seine «verwunderliche» Äusserung «Hot ers umbrocht?» sei aus dem Nichts gekommen, gab Wipfler weiter zu Protokoll (siehe Bildstrecke, Dokument 4) - denn bis anhin hatte sie weder den Name Kampusch noch den Inhalt der Amtshandlung verraten. Ernst H. wird von da an mehrmals ins Visier der Ermittlern geraten.
Eine komplette neue Version zum Tod Priklopils
Als Ernst H., für den die Unschuldsvermutung gilt, am 24. August 2006 mit seiner Reaktion konfrontiert wird, hat er eine Erklärung bereit: Er habe von der Flucht von Natascha Kampusch in den Nachrichten gehört und beim Anblick der Polizisten den Verdacht geäussert, «er» habe «sie» umgebracht. Nur: Zuvor hatte H. bereits zu Protokoll gegeben, Priklopil habe ihn kurz nach dem Mittag angerufen, in Panik, weil er wegen eines Verkehrsdelikts vor der Polizei auf der Flucht war. Mit anderen Worten: Nach dieser Version konnte H. unmöglich eine Verbindung zwischen seinem Freund Priklopil und dem Fall Kampusch machen.
Drei Jahre nach der Flucht, im Jahr 2009, wird dieser auffallende Widerspruch erkannt. Ernst H. gerät in Bedrängnis und wechselt seinen Verteidiger. Das Team rund um Staranwalt Manfred Ainedter stampft eine neue Version aus dem Boden: H. soll von Kampusch sehr wohl gewusst haben. Priklopil soll seinem Freund im Auto eine «Lebensbeichte» abgelegt haben. Darum habe er zunächst gefragt, ob er «sie» umgebracht habe. Doch auch diese Version ist löchrig: Wenn Priklopil seinem Geschäftspartner H. von Nataschas Flucht erzählt hätte – und H. ahnen konnte, dass das Mädchen womöglich auf einem Polizeiposten betreut wird -, dann kann er nicht angenommen haben, dass sie tot ist.
Das ehemalige Mitglied der Kampusch-Evaluierungskommission, Johann Rzeszut, erachtete eine weitere Erklärung für H.s Aussage für naheliegend: Um Zweifeln am Selbstmord Priklopils zu begegnen, könnte H. gemeint haben «Hat er sich umgebracht?» - um die Ermittlungen auf einen Selbstmord seines Freundes zu lenken.
Massiven Erklärungsbedarf hat Priklopils Freund H. jedenfalls zu jenem Beweggrund, aus dem er am 30. August 2006 durch seine Schwester eine Pressekonferenz organisieren liess, bei der er eine - wie er zuletzt zugeben musste – inhaltlich wahrheitswidrige, von seiner Schwester verfasste schriftliche Erklärung verlas und ergänzend hinzufügte, zur Beantwortung weiterer Fragen nicht zur Verfügung zu stehen.
Eine Geldtransaktion löst weiteren Anfangsverdacht aus
Rätsel gibt auch eine Überweisung zwischen den beiden Freunden auf: H. überwies am 13. März 1998 – elf Tage nach Kampuschs Entführung - Wolfgang Priklopil einen Betrag von 500 000 Schilling (umgerechnet etwa 45 000 Franken), von dem Priklopil einen Teil von 460 000 Schilling über ein Konto auf dem Namen seiner Mutter Waltraud Priklopil am 23. März an H. zurück überwies. H. erklärte die merkwürdige Transaktion damit, dass Priklopil sich das Geld bei ihm ausgeborgt habe mit der Absicht, einen Sportwagen der Marke Porsche zu kaufen.
H.s Aussage wurde schnell hinterfragt: Einerseits galt Priklopil in seinem Umfeld als ausgesprochener «BMW-Freak». Zudem hatte der Entführer erst kürzlich einen BMW 850 gekauft, sein «Traumauto». Die Staatsanwaltschaft Wien griff im Dezember 2009 daher eine These auf, die von Polizeioberst Franz Kröll und seinen Kollegen im polizeilichen Assistenzteam der Evaluierungskommission bereits seit dem Frühjahr 2008 vertreten worden war. In einem staatsanwaltschaftlichen Bericht an das Justizministerium wird festgehalten: «Es wäre daher mangels einer anderen plausiblen Erklärung und aufgrund der zeitlichen Nähe der Transaktion anzunehmen, dass der Geldfluss in einem Zusammenhang mit der Entführung der Natascha Kampusch stand. Dass der Grossteil des Geldes zurückgezahlt wurde, stünde dem nicht entgegen, denn es könnte sich um eine Vorauszahlung gehandelt haben, die abzüglich der ‹Spesen› zurückgefordert wurde, als es nicht zur Übergabe des Opfers kam.»
Schrieb H. Priklopils Abschiedsbotschaft?
Der ominöse Geschäftspartner von Priklopil hatte den Ermittlern auch zu erklären, warum er mit dem Entführer am Tag von Kampuschs Flucht fünf Stunden durch Wien fuhr, immer wieder die Position wechselnd, und die beiden ihre Handys ausschalteten. In weiteren Einvernahmen kam es zudem zu verschiedenen inhaltlichen Widersprüchen.
Der Zeuge H., der auf dem besten Weg war, Verdächtiger zu werden, versuchte den Befreiungsschlag: Wenige Tage nach Priklopils Tod präsentierte er – nach einer auffälligen Aufforderung durch seine Schwester dies zu tun - einen Zettel, einen Metro-Bon, mit der Aufschrift «Mama», den er angeblich von Priklopil als Abschiedsgruss an seine Mutter erhalten habe und den H. der Frau hätte geben sollen. Gemäss H. sei Priklopil danach aus seinem Auto gestiegen, ohne Handy, ohne Geld und bei den Bahngleisen, 20 Kilometer von seinem Haus entfernt. Fragen zur Suizidgefährdung soll Priklopil laut H. entkräftet haben: «Er hat schon viel lockerer gewirkt und sagte, er werde die Nacht hinter einer Plakatwand verbringen» (siehe Bildstrecke, Dokument 29, 30, 32).
H. wusste vermutlich von der entführten Natascha
Die Angaben des Zeugen H. hielten die Ermittler für unglaubwürdig. Priklopil könne nicht «lockerer» gewirkt haben, wenn er kurz zuvor einen Abschiedsbrief mit zittriger Schrift begonnen habe. Ein Handschriftenvergleich, den der damalige SOKO-Leiter Franz Kröll anordnete, brachte später Erstaunliches ans Licht: «Bei der detaillierten schriftvergleichenden Gegenüberstellung zwischen den Vergleichsschriften von Wolfgang Priklopil und dem fraglichen Schriftzug ‹Mama› konnten keine nennenswerten graphischen Übereinstimmungen festgestellt werden.» Hingegen gleiche die verbundene Schreibweise «den Vergleichsschriften des Ernst H. und die detaillierte Vergleichsanalyse erbrachte einzelne aufzeigenswerte graphische Übereinstimmungen».
Im Mai 2009 hielt das Ermittlerteam um Polizeioberst Kröll im Zuge der geführten Erkundigungen den Verdacht gegen Ernst H. dahingehend für bestätigt, «dass er Natascha Kampusch zumindest seit Mai 2004 nicht nur kannte, sondern durch verschiedene Umstände auch davon Kenntnis hatte, dass diese durch Wolfgang Priklopil entführt wurde» (siehe Bildstrecke, Dokument 13).
H. war nach Kampuschs Flucht im Haus
Die Tatsache, dass H. Priklopils Haus in der Heinestrasse 60 in Strasshof bei Wien während der polizeilichen Untersuchungen unbehindert betreten und nicht mehr eruierbare Gegenstände mitnehmen konnte, ist unerklärlich. In einem Verhör im November 2009 gab H. an, von Frau Priklopil mündlich konkludent eine Vollmacht bekommen zu haben. Fest steht, dass in dem Haus des Nachrichtentechnikers Priklopil kein PC und kein elektronisches Speichergerät sichergestellt wurde. (siehe Bildstrecke, Dokument 36).
Der ehemalige Richter Johann Rzeszut bestätigt im Interview mit 20 Minuten Online: «Auf der Ebene des polizeilichen Assistenzteams der Evaluierungskommission war es der Meinungsstand, dass H. über das Tatgeschehen um Natascha Kampusch eingeweiht war.» Rzeszut schreibt selbst in einem Brief im Juli 2009 an die damaligen Bundesministerin für Justiz Claudia Bandion-Ortner, dass H. «wiederholt an unterschiedlichen Orten gemeinsam mit Wolfgang Priklopil und dem Tatopfer angetroffen worden» sei.
Wer schützt H.?
«Die Widersprüche sind zahllos in den Aussagen dieses Geschäftspartners», sagt Rzeszut», «man kann ihm kein Wort glauben». Dass er «bis heute, auch 14 Jahre nach der Tat, nie justiziell vernommen wurde, das ist für mich nicht nachvollziehbar», meint Rzeszut weiter.
Wieso er von der Justiz konsequent nicht befragt wird, lässt laut Insidern nur zwei mögliche Erklärungen zu: Entweder wollen die Behörden die Pannen vertuschen und um jeden Preis die Einzeltätertheorie aufrechterhalten oder Ernst H. hat brisantes Beweismaterial, mit denen er sich seinen Schutz bei mächtigen Personen erschleichen kann.
Ernst H. nahm zum Fall keine Stellung. Sein Anwalt Manfred Ainedter sagte zu 20 Minuten Online: «Dazu können und wollen wir uns zurzeit nicht äussern.»
*Namen der Redaktion bekannt
(Video: Mathieu Gilliand/20 Minuten Online - Mitarbeit: Guido Grandt, Udo Schulze)