Proteste in Hongkong«Warum sollten wir Marionetten wählen?»
Studenten in Hongkong protestieren für freie Wahlen. Am Freitag eskalierte die Situation. Noch immer befinden sich tausende vor dem Gebäude - ein Besuch im Protestcamp.
Ein Mann mit halbnacktem Oberkörper hält Blumen in der Hand und tanzt langsam vor den Polizisten, die mit Schildern eine Kette vor dem Regierungssitz gebildet haben. Edward (21) schaut dem Provokateur eine Weile zu, grinst und sagt schliesslich verächtlich: «Der gehört nicht zu uns, der will nur in die Medien. Aber er sorgt wenigstens für Unterhaltung.»
Edward ist einer der tausend Studenten in Hongkong, die vor dem Sitz der örtlichen Regierung ein regelrechtes Protestcamp eingerichtet haben. Am Samstagnachmittag hat sich die Situation wieder beruhigt, nachdem es am Freitag zur Eskalation gekommen war. Über 100 Studenten hatten den Vorplatz des Gebäudes gestürmt. Die Polizei griff zu Pfefferspray und drängte sie mit Gewalt zurück. Es gab mindestens 34 Verletzte, 74 Demonstranten wurden verhaftet.
«Wir wollen studieren, nicht protestieren»
Die Studenten kämpfen gegen einen Beschluss des Nationalen Volkskongresses in Peking, bei der Wahl 2017 lediglich vorab ausgewählte Kandidaten zuzulassen. Damit ist es praktisch ausgeschlossen, dass es Regierungskritiker auf die Liste schaffen.
Edward sagt: «Auf die Liste schaffen es sowieso nur Reiche, die kein Interesse an uns normalen Bürgern haben sondern nur das befolgen, was Peking vorgibt.» Diese Kandidaten seien Marionetten. Er fragt höhnisch: «Warum sollte ich die wählen?» Die Schere zwischen Arm und Reich öffne sich in Hongkong mehr und mehr. Edward redet sich in Rage: «Warum machen eigentlich die Erwachsenen nichts? Warum sind sie nicht hier? Wir würden lieber studieren, als protestieren.»
Neben den Polizisten ergreifen verschiedene Sprecher das Mikrofon, rufen die Menge zu Sprechchören auf. Trotz den lautstarken Parolen, trotz den bedrohlich wirkenden Rufen, die Stimmung ist friedlich - Gewalt hat eigentlich keinen Platz. Dennoch kam es zur Eskalation. Daran sei jedoch die Polizei schuld, meint Edward: «Dass die Polizisten Pfefferspray einsetzten, hat uns sehr wütend gemacht», sagt er. «Wir haben keine Waffen, greifen die Polizisten nicht an - sie uns schon.»
Wasser gegen Pfefferspray
Die 20-jährige Winnie, die daneben steht, nickt und sagt: «Die Polizei in Hongkong war schon immer gegen uns Bürger, nicht für sie.» Winnie hat sich eine Erste-Hilfe-Weste angezogen und steht vor einem beträchtlichen Vorrat an Wasserflaschen. «Falls sie nochmal Pfefferspray einsetzen, sind wir wenigstens vorbereitet.» Schnell fügt sie an: «Aber ich hoffe natürlich, dass es nicht mehr so weit kommt.»
Am Samstag strömen immer mehr Menschen zum Platz und bringen kistenweise Wasser und Lebensmittel. An verschiedenen Punkten auf dem Gelände entstehen so Verpflegungslager. Kennis (19) versucht, Ordnung ins Chaos zu bringen. «Die Leute bringen viel mehr, als wir eigentlich benötigen», sagt sie strahlend und schichtet Kekse auf. Sie selbst will nicht an die Front, um zu protestieren. «Ich helfe lieber hier. Aber wir alle setzen ein Zeichen und das ist wichtig.»
Viele Studenten scheinen müde, sitzen herum, oder schlafen auf dem Boden. Es geht nur darum, da zu sein, die Stellung zu halten. Wie lange die Proteste weitergehen, ist niemandem so richtig klar. So richtig an einen Erfolg glauben, mag Edward dann aber doch nicht. «Aber so etwas, eine solche Bewegung hat es noch nie gegeben - das wird ihnen vielleicht zu denken geben.» Kennis glaubt, dass die Polizei den Protesten bald ein Ende bereiten wird. «Vielleicht morgen, vielleicht übermorgen, irgendwann werden sie uns vertreiben.»
Besetzung des Finanzdistrikts?
Die Proteste der Studenten sind Vorläufer möglicherweise grösserer Demonstrationen der prodemokratischen Occupy-Central-Bewegung, die am Nationalfeiertag am Mittwoch beginnen sollen. Die Aktivisten drohen mit einer Besetzung des Central genannten Finanzdistrikts. (sda)