Fall Kampusch - Teil 4Natascha hauste längst nicht mehr im Verlies
Natascha Kampusch verbrachte laut eigenen Aussagen 3096 Nächte im Keller. Die Polizei jedoch geht davon aus, dass sie sich im Haus frei bewegen konnte.
Die Bilder gingen um die Welt. Ein fensterloser Raum, der enger fast nicht sein könnte. Das Kellerverlies, in dem Natascha Kampusch acht Jahre gelebt haben soll und unmenschliche Qualen und Ängste ausgehalten haben muss.
Die Menschen rund um den Globus warteten gespannt auf den ersten Auftritt des Opfers. Wie wird Kampusch reden, wie ist ihr körperlicher Zustand nach acht Jahren in Enge und Dunkelheit? Dann die Bombe. Bereits zwei Wochen nach der Flucht vom 23. August 2006 gibt sie ihr erstes Interview am Fernsehen. Der ORF-Moderator macht vor dem Gespräch darauf aufmerksam, dass sie ihre Augen, die immer noch extrem lichtempfindlich seien, für längere Zeit immer wieder schliessen müsse.
Dies tut sie dann auch während des Interviews. Die Zuschauer waren überrascht, dass sie überhaupt reden konnte.
Bei weiteren Medienauftritten beschrieb Kampusch später, wie sie im Verlies ihr Tag-Nacht-Gefühl verlor, wie sie das Geräusch des Ventilators fast wahnsinnig gemacht habe, wie sie im Keller stets gehofft habe, dass die Polizei sie irgendwann finden werde. In ihrem Buch schreibt sie, der Raum sei für 3096 Nächte ihr Rückzugsraum und Gefängnis zugleich gewesen.
(Video: 20 Minuten Online)
«Kampusch nutzte mehrere Fluchtmöglichkeiten nicht»
Die Polizeiakten erzählen jedoch eine andere Geschichte (siehe Bildstrecke, Dok. 14): Kampusch selber erklärte nach der Flucht, sie habe die erste Zeit im Verlies bleiben müssen. Dann habe ihr der Entführer Wolfgang Priklopil aber erlaubt, sich im Haus und im Garten aufzuhalten. Bei Gartenarbeiten wurde sie von Nachbarn gesehen. Priklopil und Kampusch machten gemeinsame Ausflüge, sie gingen gar gemeinsam Ski fahren (siehe Bildstrecke, Dok. 17,18,19,20,21).
Der österreichische Abgeordnete Werner Amon, Leiter des Unterausschusses, der aktuell den Fall Kampusch durchleuchtet, sagt zu 20 Minuten Online: «Zweifelsohne ist es so, dass sich Natascha Kampusch nicht über die gesamte Zeit ihrer Abhängigkeit hinweg im Verlies aufhalten musste, sondern mit Wolfgang Priklopil vielfach an anderen Orten unterwegs war. Das ist ein Faktum.» (Siehe Video)
«...kann nicht als bewohnter Raum angesehen werden»
Wie lange war Kampusch also tatsächlich im Verlies? Ein Polizeibericht besagt, dass der Raum im Keller schon längere Zeit vor Kampuschs Flucht nicht mehr bewohnt war. In einem Aktenvermerk des Landespolizeikommandos vom 4. August 2009 steht: «Im Raum 0 (womit das Verlies gemeint ist, Anm. d. Red.) fällt auf, dass er so, wie er aufgefunden wurde, wohl nicht als bewohnter Raum angesehen werden kann.» (Siehe Bildstrecke, Dok. 5) Dafür würden einige Merkmale sprechen:
«1. Der einzige Sessel ist hoch mit Gegenständen belegt, es gibt keine freie Fläche, auf der etwa ein Buch aufgelegt werden kann.
2. Es finden sich keine Lebensmittel.
3. Auf dem WC-Deckel stehen Reinigungsmittel und andere Gegenstände.
4. Es herrscht grosse Unordnung (im Gegensatz zu den anderen Räumen).»
Ein Ermittler, der anonym bleiben will, fügt an: «Das Verlies war schlicht unbewohnbar, ausserdem fand man bei Kampusch gleich nach der Flucht keine Anzeichen dafür, dass sie in diesem Raum gewohnt hatte.» Ihre Haare und Kleider hätten frisch gewirkt. «Hätte sie wirklich im Verlies gewohnt, hätte man es riechen müssen.» In einem Polizeivideo ist zudem klar ersichtlich, dass die schwere Türe zum Verlies nur von innen verschliessbar war (siehe Video). Johann Rzeszut, ehemaliger Präsident des Obersten Gerichtshofs in Wien, schreibt in einer Akte von «der Tür des so genannten Verlieses mit einer gewindeabhängigen Sperreinrichtung, die ohne Mithilfe von der Innenseite (Gegendruck) nicht komplikationsfrei (bloss zufallsabhängig) abgeschlossen werden konnte». Mit anderen Worten: Kampusch musste wohl mit Hand anlegen, wenn sie ins Verlies gesperrt wurde, zum Beispiel, wenn Priklopils Mutter Waltraud zu Besuch war.
Sie durfte in seinem Bett schlafen
Die Polizei hält im Aktenvermerk vom 4. August 2009 zudem fest, dass das Schlafzimmer im Obergeschoss eventuell der hauptsächliche Aufenthaltsort von Natascha Kampusch war – zumindest zuletzt (siehe Bildstrecke, Dok. 12). Im Raum wurden vier BHs gefunden – einer davon trägerlos, was laut der Polizei nicht auf die Verwendung durch eine ältere Dame hindeutet (wie etwa Priklopils Mutter, Anm. d. Red.). Gestützt wird die These durch den Bericht, in welchem vermerkt ist: «Auch durfte sie in den letzten Jahren in seinem Bett schlafen.» (Siehe Bildstrecke, Dok. 14). In einem Abstellraum im Obergeschoss fanden die Beamten zudem eine Reisetasche mit Damenbekleidung. Darin befand sich neben einer Zahnbürste gar ein Bikini. Die Polizei schreibt: «Es dürfte sich um die Bekleidung der Natascha Kampusch gehandelt haben.» (Siehe Bildstrecke, Dok. 11).
Warum erzählt Natascha Kampusch – zum Beispiel in ihrem Buch – eine Version, die so nicht stimmen dürfte? Warum wurde nach ihrer Flucht ein Bild von einer Frau gezeichnet, die den Keller quasi nie verlassen konnte und immer dort geschlafen haben soll? Kampusch ist ein Opfer und ihr kann nicht vorgeworfen werden, wie sie ihr erzwungenes Leben mit Priklopil arrangiert hat. Aber: «Man muss sich die Frage stellen, wer ein Interesse daran hat, dass die gesamte Geschichte des Falles Kampusch so dargestellt wird, wie sie dargestellt wurde», sagt der Abgeordnete Amon. «Das ist eine der wichtigsten Fragen, die wir uns zu stellen haben.»
Natascha Kampusch wollte keine Stellung zum Fall nehmen. Wolfgang Brunner, der ihre medialen Aktivitäten koordiniert, schrieb 20 Minuten Online: «Frau Kampusch gibt derzeit keine Interviews. Sie hat sich in hunderten Interviews zum Hergang ihrer Entführung geäussert, ebenso handelt ihre Biografie davon.»
Video: Mathieu Gilliand/20 Minuten Online (Mitarbeit: Guido Grandt, Udo Schulze)