Hat Assad Obamas «rote Linie» überschritten?

Aktualisiert

Chemiewaffen eingesetztHat Assad Obamas «rote Linie» überschritten?

Die Hinweise verdichten sich, dass die syrische Armee Giftgas gegen Rebellen eingesetzt hat. Die US-Regierung will davon nichts wissen – sonst müsste sie jetzt handeln.

Kian Ramezani
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Kian Ramezani

Homs, 23. Dezember 2012: In den Stellungen der Rebellen schlägt eine Panzergranate ein. Im Anschluss beginnen zahlreiche Kämpfer zu halluzinieren, andere leiden unter schweren Atembeschwerden. Im Spital ersticken fünf am eigenen Erbrochenen. Videos auf Youtube (siehe oben) zeigen Rebellen mit schwerer Atemnot im Spital. Für Aktivisten und Ärzte ein klarer Fall: Baschar Assad hat erstmals seine gefürchteten Chemiewaffen eingesetzt.

Wie so oft können die Vorwürfe von Seiten der Opposition nicht von unabhängiger Seite bestätigt werden. Aufgrund der schwerwiegenden Implikationen startete das US-Konsulat in Istanbul deshalb eine eigene Untersuchung. In einer geheimen Depesche an das Aussenministerium in Washington kamen die Diplomaten offenbar zum Schluss, dass die syrische Armee in Homs ein tödliches Giftgas eingesetzt hatte. Ein anonymer Regierungsvertreter, der das US-Magazin «Foreign Policy» über den Inhalt der Depesche in Kenntnis setzte, nannte die Beweislage «überzeugend».

Noch wäre Zeit für eine Laboranalyse

Die US-Diplomaten gehen davon aus, dass es sich beim Kampfstoff um «Agent 15», eine LSD-ähnliche Substanz, handelt. «Das waren Chemiewaffen, da sind wir uns sicher, denn Tränengas kann nicht fünf Personen töten», sagten auch zwei Ärzte aus Homs, die damals vor Ort waren. Ihre Einschätzung basieren sie auf drei Faktoren: Die Plötzlichkeit der Todesfälle, die grosse Zahl der Betroffenen sowie wiederkehrende Symptome über 12 Stunden nach der Behandlung. Einen wissenschaftlichen Beleg zu erbringen sei unmöglich gewesen, da ihnen die nötige Ausrüstung fehle. Blut-, Haar- Speichel- und Urinproben hätten sie zwar entnommen, diese seien aber inzwischen unbrauchbar.

Dieser Einschätzung widerspricht Stefan Mogl vom Schweizerischen Institut für ABC-Schutz, der nationalen Fachstelle für den Schutz vor atomaren, biologischen und chemischen Kampfstoffen: «Es wäre immer noch aufschlussreich, an diese oder andere, möglicherweise Umweltproben zu kommen und sie zum Beispiel in Spiez zu untersuchen», sagt der ehemalige Chemiewaffeninspektor auf Anfrage von 20 Minuten Online. Viel Zeit bleibe allerdings nicht, da die Aussagekraft der Proben mit fortschreitender Zeit abnehme. Die Agent-15-Theorie überzeugt ihn nicht restlos: «Nicht alle beschriebenen Symptome weisen auf besagten Kampfstoff hin», sagt Mogl. Die Chancen für eine professionelle Analyse der Proben sind allerdings gering: Sie müssten versiegelt aus einem Kriegsgebiet geschleust werden und zuvor fachgemäss gelagert worden sein.

Testet Assad, wie weit er gehen kann?

Die öffentliche Reaktion der US-Regierung, Adressatin der brisanten Depesche, fiel bisher zurückhaltend aus: «Ich werde den angeblichen Inhalt einer geheimen Depesche nicht kommentieren», sagte ein Sprecher gegenüber «Foreign Policy». Die Berichterstattung über den angeblichen Einsatz von Chemiewaffen in Syrien «decke sich nicht mit den eigenen Annahmen», ergänzte Tommy Vietor, Sprecher des Nationalen Sicherheitsrats, am Dienstag. Zudem habe Präsident Obama klargemacht, dass Assad zur Rechenschaft gezogen würde, sollte er Chemiewaffen einsetzen.

Dass Washington nicht stärker auf die Erkenntnisse seiner Diplomaten in Istanbul reagiert, folgt laut unabhängigen Beobachtern einem gefährlichen Trend: Im August hatte Barack Obama die syrische Führung vor dem Einsatz und der Verschiebung von Chemiewaffen gewarnt. Damit würde Assad eine «rote Linie» überschreiten. Im Dezember schwächte der US-Präsident seine Warnung ab, warnte nur noch explizit vor dem Einsatz von Chemiewaffen. Aufgrund dieser losen Definition der roten Linie könnte Assad versucht sein, seinen Handlungsspielraum weiter auszuloten. «Assad hat jetzt eine bessere Vorstellung davon, was er sich erlauben kann», warnte Andrew Tabler vom Thinktank Washington Institute for Near East Policy.

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