Fall Kampusch - Teil 2Tatzeugin bleibt dabei: «Priklopil war nicht allein»
Seit 14 Jahren beharrt die einzige Augenzeugin der Entführung auf zwei Tätern. Sie widerspricht der Kampusch-Version vom Einzeltäter diametral, trotz enormen Drucks der Ermittler.
Der 2. März 1998 veränderte das Leben der damals 12-jährigen Ischtar A.* grundlegend. Sie spazierte beim Rennweg in Wien Richtung Schule, als vor ihren Augen ein Mädchen in einen weissen Kastenwagen gezerrt wurde. Ischtar A. erzählte das Erlebte sofort ihren Freundinnen, der Lehrerin und ihrer Mutter. Bereits am Tag darauf musste sie ein erstes Mal bei der Polizei aussagen. Es war der Anfang eines Einvernahme-Marathons.
Seither erzählte Ischtar A. immer wieder die gleiche Version: Auf ihrem Schulweg habe sie auf der Seite, auf der das andere Mädchen ging, ein grosses, weisses Auto mit schwarzen Scheiben gesehen. «Auf der Fahrerseite sass ein Mann, den ich nicht sehen konnte, weil sein Gesicht nach links gedreht war», gab Ischtar A. zu Protokoll (siehe Bildstrecke oben, Dok. 5). Als das ihr unbekannte Mädchen das Heck des weissen Wagens erreichte, sei plötzlich die Schiebetür des Autos aufgegangen. Ihre Beobachtung: «Sehen konnte ich nur, dass das Mädchen von rückwärts an beiden Oberarmen ins Auto gezerrt wurde.» Ischtar A. schätzte das Alter des Mannes, der das Mädchen ins Auto zog, auf etwa 30 Jahre (siehe Video unten). In zahlreichen späteren Befragungen wiederholte Ischtar A., was sie schon ganz am Anfang gesagt hatte: Sie sei sich sicher, dass es sich bei den Entführern um zwei Männer gehandelt habe, da der eine die ganze Zeit auf dem Fahrersitz sitzen geblieben sei.
Nach der Flucht Natascha Kampuschs am 23. August 2006 konnte Ischtar A. den Entführer Wolfgang Priklopil anhand von Bildern als den Mann identifizieren, der das Mädchen in den Kastenwagen gezerrt hatte. Auf den Einwand, Natascha Kampusch habe ausgesagt, sie sei nur von einer Person entführt worden, antwortete Ischtar A.: «Auch wenn sie das aussagt, bin ich mir sicher, dass in dem Bus, welchen ich gesehen habe, zwei Personen gesessen sind.» (siehe Bildstrecke oben, Dok. 20) Priklopil habe sie eindeutig erkannt, zur zweiten Person habe sie bereits eine Personen-Beschreibung abgegeben. Und: «Dezidiert schliesse ich aus, dass Priklopil alleine in dem von mir gesehenen Bus war.»
Die Polizei findet mehrere Täter schlecht für den Fall
Trotz der Konstanz ihrer Aussagen wurde Ischtar A. immer wieder vorgeladen. Stets bekam sie die Frage gestellt, ob sie wirklich mehrere Täter gesehen habe. Am 3. Dezember 2009 kam es schliesslich zu einer Gegenüberstellung von Ischtar A. mit Natascha Kampusch. Im entsprechenden offiziellen Dokument und im offiziellen Statement der Abschlusskonferenz im Januar 2010 heisst es, Ischtar A. habe beim Treffen mit Kampusch eingeräumt, sie könne sich betreffend der Wahrnehmung von zwei Täter auch geirrt haben. Damit schien die Polizei endlich zu haben, was sie wollte.
Am 29. Juli 2011 wurde Ischtar A. vom Gericht in Innsbruck vorgeladen. Sie sagte im Zuge eines Verfahrens gegen fünf wegen Amtsmissbrauchs angeklagte Staatsanwälte (im Zusammenhang mit dem Fall Kampusch)aus und liess eine Bombe platzen. Laut dem «Kurier» gab sie unter Eid an, sie sei bei der Gegenüberstellung mit Kampusch nie von ihrer Position abgerückt und habe immer von zwei Tätern gesprochen. Mehr noch: Sie bekundete vor Gericht, Polizisten hätten ihr gesagt, sie dürfe niemandem von zwei Tätern erzählen, dies sei schlecht für den Fall. Damit erhält der Verdacht, dass Ischtar A. systematisch unter Druck gesetzt wurde, weitere Nahrung. Johann Rzeszut, ehemaliger Präsident des Obersten Gerichtshofs in Wien, bezeichnete die Gegenüberstellung 2009 als Farce und spricht von einer völlig atypischen und krass einseitig-suggestiven Einflussnahme auf Ischtar A.
Kampusch oder die Zeugin? - eine von beiden sagt nicht die Wahrheit
Für Rzeszut steht fest: «Im Fall Kampusch wurden von Beginn an wesentliche Ermittlungsansätze nicht beachtet und Angaben der Schlüsselzeugin sachlich nicht vertretbar missachtet.» Und auch der österreichische Abgeordnete Werner Amon, Leiter des Unterausschusses, welcher aktuell den Fall Kampusch durchleuchtet, fragt sich im Gespräch mit 20 Minuten Online, weshalb man in diesem Zusammenhang den Aussagen Natascha Kampuschs höheres Gewicht beigemessen hat als denen von Ischtar A. (siehe Video oben) Rzeszut schrieb am 16. Juli 2009: «Eine der beiden jungen Frauen sagt die Unwahrheit. Die Zeugin Ischtar A. hat dazu kein denkbares Motiv, das Opfer hingegen könnte mehrere plausible Gründe dafür haben – zum Beispiel einen noch lebenden Mittäter zu decken, der sie eventuell unter Druck setzt.»
Priklopil wollte Natascha Kampusch übergeben
Die Einzeltätertheorie wurde auch nicht hinterfragt, als Kampusch in ihrem Buch schrieb, Priklopil habe während der Fahrt gesagt, sie werde bald an «andere» übergeben. Nicht einmal, als Kampusch im August 2006 in einer ihrer ersten Einvernahmen auf die Frage nach Komplizen «Ich weiss keine Namen» antwortete, wurde nach mehreren Entführern gefahndet.
Die Haltung der Ermittler, einer Theorie von mehreren Tätern nicht konsequent nachzugehen, nährt den Verdacht, dass hinter dem Fall Kampusch mehr stecken könnte als nur ein toter Entführer. Falls dem so ist, läuft mindestens ein Mittäter noch frei herum.
Natascha Kampusch will keine Stellung zum Fall nehmen. Wolfgang Brunner, der ihre medialen Aktivitäten koordiniert, schrieb 20 Minuten Online: «Frau Kampusch gibt derzeit keine Interviews. Sie hat sich in hunderten Interviews zum Hergang ihrer Entführung geäussert, ebenso handelt ihre Biografie davon.»
*Name der Redaktion bekannt
(Mitarbeit: Guido Grandt, Udo Schulze; Video: Mathieu Gilliand/20 Minuten Online)
Lesen Sie am Donnerstag Teil 3: «Wolfgang Priklopil - das Psychogramm»