Fall Kampusch - Teil 3Hatte der Einzelgänger einen Auftrag?
Nachrichtentechniker, BMW-Freak, Putz-Fanatiker: Kampusch-Entführer Wolfgang Priklopil war ein Eigenbrötler. Doch vieles spricht dafür, dass er nicht alleine handelte.
Wolfgang Priklopil war nicht ganz 36 Jahre alt, als er im Jahre 1998 die 10-jährige Natascha Kampusch entführte. 3096 Tage hielt er sein Opfer in seinem Haus an der Heinestrasse 60 in Strasshof bei Wien fest, bevor er sich nach offiziellen Angaben unter einen Zug warf. Priklopil bleibt auch sechs Jahre nach seinem Tod vom 23. August 2006 ein Mysterium.
Wolfgang Priklopil lernt Nachrichtentechniker bei Siemens. Der junge Mann gilt in seinem Umfeld als Sonderling, der allgemein soziale Kontakte scheut. Der Einzelgänger hat einen Putzfimmel, führt über alles Buch und liebt Ordnung sowie BMWs (siehe Video unten). 1982 lernt er Ernst H.* kennen, der später sein Geschäftspartner und Freund wurde.
Priklopil ist die Familie wichtig. «So viel ich weiss, hat er seine Grossmutter mehrmals wöchentlich besucht», sagte Ernst H. während einer Einvernahme im August 2006 zur Polizei. «Das Grab seines Vaters hat er fast täglich besucht.» Zudem sei das Verhältnis zu seiner Mutter äusserst gut gewesen (siehe Bildstrecke, Dok. 5). Mutter Waltraud geht bei ihrem Sohn ein und aus. Natascha Kampusch sagte in Interviews nach ihrer Flucht im Jahr 2006, sie habe vor den Besuchen von Priklopils Mutter jeweils das Haus putzen und ihre Hausschuhe wegräumen müssen. Während der Besuche habe Priklopil Kampusch ins Verlies gesteckt.
Warum wurde Priklopil nicht bei seiner Familie begraben?
Ernst H. war Wolfgang Priklopils einziger Freund. «Den einen gab es nicht ohne den anderen», sagten laut Polizeiakten Leute, die die beiden kannten. Sie hatten nicht nur beruflich miteinander zu tun, sondern teilten auch ihre Freizeit - unter anderem gingen sie zusammen Ski fahren. Daher erstaunt es, dass Ernst H.s Schwester, Margit W.*, Priklopil nicht richtig gekannt haben will (siehe Bildstrecke, Dok. 3). Noch unerklärlicher ist, dass genau diese Margit W. die Formalitäten von Priklopils Begräbnis übernahm (siehe Bildstrecke, Dok. 4). Jetzt liegt Priklopil im Grab einer unbekannten Familie, obwohl ihm die Grabstätten der eigenen Familie so wichtig waren und das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn bis zum Schluss sehr eng war.
Pornos vor der Mutter versteckt
Ernst H. will von Priklopils pädophiler Neigung gewusst haben. Er sagte während einer Einvernahme im Oktober 2009, dass Priklopil Kinderpornos und Pornos besass. Diese habe er vor der Mutter verstecken müssen (siehe Bildstrecke, Dok. 15). «Er hat immer geäussert, er wolle ein unbeflecktes junges Mädchen, dass seine Pedanterie mitmacht.»
Diese Vorlieben waren offenbar auch anderen bekannt. Ein Polizeihunde-Führer informierte am 14. April 1998 – nur wenige Wochen nach der Kampusch-Entführung vom 2. März 1998 – das Wiener Sicherheitsbüro darüber, dass es in Strasshof eine Person gebe, die mit dem Verschwinden von Kampusch in Zusammenhang stehen könnte. Er sagte, die Person habe sexuell einen Hang zu Kindern. Die Polizei verfolgte die Spur nicht konsequent. Diese Fahndungspanne verlängerte Natascha Kampuschs Martyrium bis ins Jahr 2006.
Kampusch musste sich am ganzen Körper rasieren
Zu Frauen hatte Priklopil ein schwieriges Verhältnis. Fettleibigkeit war ihm ein Graus. Der Bekannte Rudolf H.* sagte laut Polizeidokumenten dazu: «Ich weiss nur, dass er keine dicken Frauen mochte und blonde Frauen mit blauen Augen bevorzugte» (siehe Bildstrecke, Dok. 10). Kampusch sagte in einem TV-Interview nach der Flucht, Priklopil übertrage seine Magersucht auf andere Leute. Er habe sie manchmal fast verhungern lassen, um sie dann wieder aufzupäppeln. Zwischen 2000 und 2004 musste sich Kampusch zudem Kopf und Körper rasieren - , wie sie während der Einvernahme am 15. September 2006 zu Protokoll gab (siehe Bildstrecke, Dok. 8). Die Glatze musste sie mit einer Haube abdecken.
War Kampusch für jemand anderen bestimmt?
Bis heute ist nicht klar, ob Priklopil sein Opfer überhaupt für sich wollte. Kampusch selbst spricht in ihrer Biografie «Natascha Kampusch 3096 Tage» mehr als einmal von Dritten. Unmittelbar nach der Entführung, im Kastenwagen, habe Priklopil gesagt: «Ich bringe dich jetzt in den Wald und übergebe dich den anderen. Dann habe ich mit der Sache nichts mehr zu tun.»
Tatsächlich berichtet Kampusch in ihrem Buch von einer gescheiterten Übergabe: «Ich weiss nicht mehr, wie lange die Fahrt gedauert hat, bis wir anhielten. Wir waren in einem Föhrenwald, wie es sie ausserhalb von Wien zahlreich gibt. Der Täter stellte den Motor ab und telefonierte wieder. Etwas schien schiefgegangen zu sein. ‹Die kommen nicht, die sind nicht hier!›, schimpfte er vor sich hin. Später habe er den Motor gestartet und sei wieder losgefahren.»
Priklopil schien unvorbereitet zu sein
Priklopil musste in der Folge offenbar improvisieren, wie Kampusch in ihrem Buch beschreibt. Nach der Ankunft in Priklopils Garage in Strasshof habe er sie in eine Decke gewickelt und sie in einen Raum ohne Fenster gebracht. Dann habe er nach Wien fahren müssen, um für sie eine Matratze zu holen. Priklopil hat offenbar nicht damit gerechnet, Natascha Kampusch unterbringen zu müssen.
Johann Rzeszut, ehemaliger Präsident des Obersten Gerichtshofs in Wien, sagt zur Theorie einer Auftragsentführung gegenüber 20 Minuten Online: «Ob das Verlies vorbereitet war oder nicht, ist völlig offen.» Es spreche aber einiges dafür, dass die Planverwirklichung und der Fortgang der Entführungsordnung nicht ganz so verlaufen seien, wie es ursprünglich geplant war.
Natascha Kampusch wollte keine Stellung zum Fall nehmen. Wolfgang Brunner, der ihre medialen Aktivitäten koordiniert, schrieb 20 Minuten Online: «Frau Kampusch gibt derzeit keine Interviews. Sie hat sich in hunderten Interviews zum Hergang ihrer Entführung geäussert, ebenso handelt ihre Biografie davon.»
Auch Ernst H. - für den die Unschuldsvermutung gilt - nahm zum Fall keine Stellung. Sein Anwalt Manfred Ainedter sagte zu 20 Minuten Online: «Dazu können und wollen wir uns zurzeit nicht äussern.»
Margit W. konnte für eine Stellungnahme weder per E-Mail noch telefonisch erreicht werden.
*Namen der Redaktion bekannt
(Mitarbeit: Guido Grandt, Udo Schulze; Video: Mathieu Gilliand/20 Minuten Online)