MigrationWie viele Menschen vertreibt der Klimawandel?
Steigende Meeresspiegel und Dürren vertreiben Menschen aus ihrer Heimat. Konkrete Zahlen zu «Klimaflüchtlingen» sehen Experten aber skeptisch.
Dürren, Hochwasser, Stürme und steigende Meeresspiegel – die Folgen des Klimawandels treten immer deutlicher zutage, und immer eindringlicher warnen verschiedene Institutionen vor einem Anstieg klimabedingter Migration. So befürchtet die Weltbank, es könnte bis 2050 mehr als 140 Millionen sogenannter «Klimaflüchtlinge» aus Lateinamerika, Südasien und dem südlichen Afrika geben.
Forscher der Columbia University nehmen an, der Klimawandel werde mehr Menschen aus Afrika nach Europa treiben. Je höher und länger die Temperatur im Mais-Anbaugebiet eines Staates in der Vergangenheit über 20 Grad gestiegen war, desto mehr Asylanträge seien von Bürgern dieser Länder gestellt worden, stellten die Wirtschaftsforscher laut «Spiegel Online» fest. Und das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR geht sogar von 250 Millionen bis zu einer Milliarde Menschen aus, die wegen des Klimawandels in den nächsten 50 Jahren «gezwungen sein werden, ihre Heimat zu verlassen».
«Mit Zahlen wäre ich vorsichtig»
Viele Wissenschaftler sehen derart konkrete Voraussagen allerdings skeptisch. Für die Gleichung «je mehr Klimawandel, desto mehr Migration» seien die Gründe, sein Heimatland zu verlassen, viel zu komplex, schreiben etwa Forscher des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik in der «Zeit».
Dieser Ansicht ist auch der Friedens- und Konfliktforscher Tobias Ide. «Dass der Klimawandel zu Migration führt, ist unumstritten. Mit solchen Zahlen wäre ich aber aus drei Gründen sehr, sehr vorsichtig», sagt der Wissenschaftler vom Braunschweiger Georg-Eckert-Institut im Gespräch mit 20 Minuten. Zum einen sei der Begriff «Klimaflüchtling» problematisch. «Es gibt noch andere Gründe für Migration wie Armut, politische Diskriminierung oder gewaltsame Konflikte, und es stellt sich die Frage, ab wann jemand ein ‹Klimaflüchtling› ist. Reicht es, wenn eine Dürre den letzten Ausschlag gegeben hat, er aber vor allem aus wirtschaftlichen oder politischen Gründen geflüchtet ist?» Abgesehen davon liessen sich die Migrationsursachen nur schwer trennscharf voneinander abgrenzen.
Klimawandel kann Migration reduzieren
Zum zweiten, so Ide, spielten sogenannte Kippelemente im Klimasystem, die sich kaum vorhersagen liessen, eine grosse Rolle. Beispiel Asien: Niemand wisse, bei welchem Temperaturanstieg und in wie vielen Jahren die Monsunzirkulation aus dem Gleichgewicht gerate. Aber wenn das passiere, werde das die Landwirtschaft in Ländern wie Indien oder Pakistan massiv beeinflussen und könne zu einer grossen Migrationsbewegung führen.
Drittens hätten viele Arme, die besonders vom Klimawandel betroffen seien, überhaupt nicht die Ressourcen zur Flucht, sodass Naturkatastrophen die Migration sogar verringern könnten. Ein Grossteil der Migranten bewege sich ausserdem innerhalb des eigenen Herkunftslands oder zwischen den Ländern einer Region, betont Christiane Fröhlich, die am Leibniz-Institut für Globale und Regionale Studien (GIGA) in Hamburg zu Fluchtursachen im Nahen Osten forscht. Klimabedingte Binnenmigration, so sagt auch Ide, werde künftig eine sehr viel grössere Rolle spielen als die Migration nach Europa.
Studien verstärken die Aufmerksamkeit
«In den nächsten 50 Jahren werden die Menschen weiter wegen politischer Diskriminierung, Gewalt oder Armut nach Europa kommen», ist der Politologe überzeugt. Der Klimawandel könne diese Beweggründe zwar verstärken, werde aber nicht die Hauptursache sein.
Vorhersagen wie die der Weltbank würden zwar helfen, das Thema Klimawandel weiter ins Bewusstsein von Politik und Öffentlichkeit zu rücken, sind sich beide Experten einig. Allerdings dienten solche Zahlen oft auch dazu, «eine Abschottungspolitik gegenüber Migranten zu legitimieren», gibt Fröhlich zu bedenken.