Eine Falschmeldung und ihre Geschichte

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Fake NewsEine Falschmeldung und ihre Geschichte

Die «New York Times» seziert ein mediales Lauffeuer rund um Trump-Proteste – und zeigt, wie rasant Fake-News zu mächtigen Meinungsbildnern werden.

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Die Follower-Gemeinde von Eric Tucker aus Austin, Texas, war überschaubar. Rund 40 Personen folgten dem Mitgründer einer Marketingfirma Anfang November 2016 auf dem Kurznachrichtendienst Twitter.

Trotzdem verbreitete sich Tuckers Tweet über vermeintlich in Reisebussen herangekarrte, gekaufte Trump-Gegner Anfang November in den sozialen Netzwerken wie ein Lauffeuer. Allein auf Twitter wurde sein Post 16'ooo Mal, auf Facebook gar mehr als 350'ooo Mal geteilt.

Die Chronologie eines medialen Lauffeuers

Die Story fand landesweit Gehör, befeuerte die Verschwörungstheorie von den angeblich falschen Anti-Trump-Protesten und wurde sogar munter von Trump selber weiterverbreitet. Nur: Sie war hinten und vorne falsch. Doch die Fakten interessierten bald niemanden mehr.

Wie konnte es so weit kommen, dass der vermeintlich harmlose private Tweet eines Bürgers diese virale Macht entfaltete?

Die «New York Times» über eine Falschmeldung und ihre Geschichte.

9. November, gegen 20 Uhr abends (lokale Zeit)

Eric Tucker postet auf seinem Twitter-Account drei Fotos. Er hat die Bilder, sie zeigen eine Reihe voll besetzer Autobusse in Austins Innenstadt am Vormittag, selbst aufgenommen. Tuckers Kommentar zu den Fotos: «Anti-Trump-Demonstranten in Austin sind definitiv nicht so echt, wie sie scheinen. Das hier sind die Busse, in denen sie angereist sind.» Seinen Tweet versieht er noch mit den Hashtags «Falsche Proteste», «Trump 2016» und «Austin».

Tucker sieht den Zusammenhang zwischen den Reisebussen und den Trump-Protesten am selben Tag als gegeben an. Fälschlicherweise, wie sich später herausstellen sollte. Denn die Reisenden waren mitnichten Demonstranten, sondern Besucher des Kongresses einer grösseren Softwarefirma.

Er als viel beschäftigter Unternehmer «habe nicht die Zeit, um alles und jede Info gegenzuchecken, die ich ins Netz stelle», begründet Tucker sein Verhalten später in einem Interview mit der «New York Times». Andere Erklärungen für die hohe Reisebus-Dichte an diesem Tag seien ihm schlichtweg nicht plausibel erschienen. Zudem habe er angesichts seiner verschwindend kleinen Follower-Gemeinde auch nichts von der medialen Wucht erahnen können, die seine Nachricht als «privater Bürger» entfalten würde.

10. November 2016, gegen 1 Uhr nachts (lokale Zeit)

Nur wenige Stunden nach dem Tweet taucht Tuckers Nachricht beim mächtigen Social-News-Aggregator Reddit in einer Pro-Trump-Gruppe auf, jetzt unter der Headline: «Breaking: Sie haben die Busse gefunden! Dutzende, alle hintereinander aufgereiht und nur ein paar Blocks von den Trump-Protesten entfernt.» Binnen kurzer Zeit sammeln sich unter der Story rund 3000 Leserkommentare.

10. November 2016, gegen 9 Uhr morgens (lokale Zeit)

Seine geballte Sprengkraft entwickelt der Tucker-Tweet am Morgen danach. Zuerst, als ein Nutzer des bei US-Konservativen beliebten Diskussionsforums «Free Republic» auf den Reddit-Eintrag verlinkt. Später, als auch Facebook ins Spiel kommt.

Ein mediales Schneeballsystem läuft an, verbreitet die falsche Nachricht weiter, schafft binnen Stunden gigantische Reichweite. Und das – Facebooks viel kritisierter Meinungs-Blase sei Dank – bevorzugt in jenem politischen Lager, in dem die Mär von den gekauften Trump-Gegnern ohnehin auf offene Ohren stösst. Mehr als 300'000 Facebook-Nutzer werden die Story über «Free Republic» teilen.

Recherche? Fehlanzeige

Langsam werden auch Journalisten aufmerksam auf Tuckers Geschichte. Noch am selben Nachmittag erhält der Mediensprecher des Transportunternehmens, Sean Hughes, einen Anruf von Fox News. Ein Reporter will wissen, ob die Firma wirklich ganze Reisebusladungen von Trump-Gegnern nach Austin chauffiert hat. «Zu keinem Zeitpunkt», entgegnet Hughes. Doch einmal losgetreten, kann auch die Richtigstellung die mediale Lawine nicht mehr bremsen.

Und was Mediensprecher Hughes später am meisten wundert: Obwohl sein Arbeitgeber mitsamt allen Kontaktdaten leicht im Netz zu finden wäre, laufen bei ihm jetzt keineswegs die Telefondrähte heiss oder quillt die Mailbox über vor Anfragen neugieriger Journalisten.

Über Twitter haken einige Nutzer beim Urheber der Nachricht direkt nach: Sie fragen Tucker, ob er seinen Tweet belegen könne, fordern Beweise.

Tucker gibt zu, dass er keine hat. Das «Ein- oder Aussteigen der Reisebus-Insassen» habe er «nicht beobachten» können, doch die Busse seien «ziemlich in der Nähe der Proteste und um den selben Zeitpunkt herum» vor Ort gewesen. Weiterverbreitet wird die Falschnachricht trotzdem.

10. November 2016, abends (lokale Zeit)

Der vermeintliche Augenzeuge gekaufter Trump-Gegner ist in der konservativen Blogosphäre mittlerweile das Thema.

Dann, kurz nach 21 Uhr, äussert sich auch Donald Trump:

«Habe eine offene und erfolgreiche Präsidentschaftswahl hinter mir. Jetzt protestieren professionelle Demonstranten, angestachelt von den Medien. Sehr unfair!», tweetet der siegreiche Kandidat der Republikaner.

In den Augen Tuckers kommt die Wortmeldung des zukünftigen Präsidenten einem digitalen Adelsschlag seiner Nachricht gleich. Habe er zuvor noch kurz mit dem Gedanken gespielt, seinen Tweet zu löschen, sei er nun davon überzeugt gewesen, dass die Geschichte von den Demonstranten in den vielen Reisebussen so falsch nicht sein könne.

11. November 2016

Zur Erinnerung: Eigentliches Ziel der umstrittenen Reisebus-Insassen von Austin war eine Firmenveranstaltung mit rund 13'000 Teilnehmern. In Anbetracht des medialen Wirbels gibt der Veranstalter des Kongresses, ein Softwarehersteller namens Tableau, am Tag nach Tuckers Tweet ein Statement heraus, aus dem genau das klar hervorgeht: Das Unternehmen selbst hatte die Reisebusse gechartert – für eine Mitarbeiter-Veranstaltung.

Auch Tucker hegt jetzt Zweifel; gegen 14 Uhr meldet er sich auf seinem Blog zu Wort, gesteht ein, dass er möglicherweise «völlig falschgelegen» habe. Doch in den sozialen Netzwerken und Foren wird sein Ursprungs-Tweet trotzdem noch tausendfach geteilt.

Kurz nach Mitternacht geht Tucker noch einen Schritt weiter:

Er löscht seinen Tweet vom 9. November und versieht den ursprünglichen Post grafisch mit dem Schriftzug «Falschmeldung». Nach einer Woche hat die Richtigstellung genau 27 Likes, 29 Nutzer haben die Meldung über Twitter weiterverbreitet.

Späte Reue

Von einer Journalistin der «New York Times» auf seine Rolle als Urheber der Falschnachricht angesprochen, äusserte sich der 35-jährige Tucker mittlerweile recht kleinlaut zu seinem grossen medialen Auftritt: «Wo auch immer Sie sehen werden, dass ich mich in Zukunft äussere: Wenn ein grosses Publikum zu erwarten ist, das versichere ich Ihnen, werde ich darauf achten, mich an die Fakten zu halten und meine persönliche Meinung auch klar als solche zu kennzeichnen.»

Seine Follower-Gemeinde beim Kurznachrichtendienst Twitter hat sich in den 48 Stunden des medialen Lauffeuers vervierundzwanzigfacht.

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