«Früher machte mich das Anstarren wütend»

Aktualisiert

Mein Handicap«Früher machte mich das Anstarren wütend»

Benjamin Früh hat eine cerebrale Bewegungsstörung. Das hält den 23-Jährigen aber nicht davon ab, sich zu bewegen – und seine Meinung zu sagen.

von
Eva Kamber
In der Serie «Leser stellen sich vor» sprechen wir jeden Mittwoch mit einem Mitglied aus der 20-Minuten-Community. Im Juni erzählen Leserinnen und Leser, wie das Leben mit Handicap aussieht. Diese Woche erklärt Benjamin Früh, wie man trotz Cerebralparese Leistungssport betreibt.
Benjamin leidet aufgrund einer frühkindlichen Hirnblutung an einer cerebralen Bewegungsstörung (CP). Für den 23-Jährigen keinen Grund, sich nicht zu bewegen - ganz im Gegenteil: Der Leistungssport Handbiking hat es ihm angetan.
Er kann nur seine rechte Hand sicher koordinieren. Seine Linke fixiert er deshalb mittels einer Orthese an der Kurbel. Weniger als 15 Kilogramm wiegt ein solches Bike. Die Sportgeräte werden für jeden Fahrer passgenau angefertigt.
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In der Serie «Leser stellen sich vor» sprechen wir jeden Mittwoch mit einem Mitglied aus der 20-Minuten-Community. Im Juni erzählen Leserinnen und Leser, wie das Leben mit Handicap aussieht. Diese Woche erklärt Benjamin Früh, wie man trotz Cerebralparese Leistungssport betreibt.

«Man könnte die Theke am Tamedia-Empfang auch durchsichtig machen, dann hätte ich die Dame dahinter mal sehen können», sagt Benjamin kurz nach der Begrüssung grinsend. Welche kleinen und grossen Herausforderungen ein Leben mit Cerebralparese – neben zu hohen Empfangstheken – noch mit sich bringt, erzählt er im Interview:

Benjamin Früh, weshalb haben Sie sich auf den Aufruf gemeldet?

Weil ich solche Aktionen gut finde. Mehr Informationen über uns Menschen mit Behinderung schaffen mehr Verständnis in der Öffentlichkeit.

Wie sieht ein typischer Tag in Ihrem Leben aus?

Eigentlich unterscheidet sich mein Tagesablauf nicht unbedingt von anderen. Nur dass ich für alle Aktivitäten mehr Zeit und Unterstützung brauche. Ich arbeite Teilzeit im Grafikbereich. Daneben benötige ich verschiedene Therapien. Die restliche Zeit investiere ich in den Sport.

Welchen Sport betreiben Sie?

Ich bin im Schweizer Nachwuchskader der Handbiker. Das heisst, ich liege auf dem Sportrad und trete es nicht mit den Beinen, sondern mit den Händen – genauer mit der rechten Hand. Denn ich kann nur diesen Arm sicher kontrollieren. Die Linke kann ich nicht benutzen. Die wird mit einer Orthese an der Kurbel fixiert.

Wie schnell sind Sie mit diesem Handbike?

Es gibt fünf Klassen. Ich bin ein MH1, das bedeutet Men Handbiker Kategorie 1. Das sind die, die am meisten beeinträchtigt sind. Ich schaffe im Moment einen Schnitt von 24 km/h, kann mich aber noch steigern. Bei der Kategorie MH5 sind die Geschwindigkeiten vergleichbar mit den Tour-de-Suisse-Fahrern (über 40 km/h).

Was sind die grössten Schwierigkeiten beim Handbiken?

Mühsam sind vor allem Baustellen. Häufig führen die Umleitungen zum Beispiel über hohe Randsteine. Da bleib ich mit der Schale hängen und muss so komisch aufgebockt warten, bis mir jemand hilft. Deshalb habe ich immer eine Begleitung dabei. Ich kann ja nicht aussteigen, das Bike runterheben und wieder einsteigen.

Was ist das nächste Ziel?

Die Para-Cycling-Weltmeisterschaften, die vom 28. Juli bis 2. August im luzernischen Nottwil stattfinden. Im Moment fahre ich um WM-Punkte im In- und Ausland und hoffe, dass ich für die WM selektioniert werde.

Wie reagieren Menschen, die Sie nicht kennen, auf Sie?

Es gibt schon Leute, die einem hinterherschauen. Ich habe schon erlebt, dass ein Autofahrer mich und mein Bike so lange beobachtet hat, bis er fast einen Unfall baute. Abgesehen von einem Hupkonzert ist glücklicherweise nichts passiert. Wenn mich früher jemand so angestarrt hat, dann bin ich manchmal wütend geworden und habe ein Foto angeboten. Heute nehme ich das entspannter.

Welche Reaktionen nerven Sie am meisten?

Zum Beispiel, wenn jemand eine Frage an mich hat, diese aber an meine Begleitperson statt an mich stellt. Sogar ein älterer Herr, den die ganze Familie gut kennt, spricht immer mit meinen Eltern statt direkt mit mir.

Gibt es auch lustige Situationen?

Als wir im Trainingslager waren, haben wir ein paar junge Leute getroffen. Sie haben bemerkt, dass viele Handbiker unterwegs sind, und wollten wissen, wie das genau funktioniert. Nachdem ich es ihnen erklärt hatte, fragte eine von ihnen: «Ist das denn schwieriger als normales Velofahren?» Woher soll ich das denn wissen?

Gibt es etwas, das Sie den anderen Leserinnen und Lesern gerne mitteilen würden?

Ich wünsche mir manchmal etwas mehr Geduld. Ob mit dem Bike oder dem Rollstuhl, es benötigt halt einen Moment länger, um voranzukommen. Trauen Sie sich auch, auf mich zuzugehen. Ich kann zwar nicht gehen, aber sprechen kann ich und ich beantworte auch gerne Fragen.

In der Serie «Leser stellen sich vor – mein Handicap» hat auch Luana mit uns gesprochen. Ihre Geschichte finden Sie hier>>

Unter dem Ausdruck (Cerebralparese(CP)) versteht man Bewegungsstörungen, deren Ursache in einer frühkindlichen Hirnschädigung liegt. Die dadurch hervorgerufene Behinderung ist charakterisiert durch Störungen des Nervensystems und der Muskulatur.

Die Vereinigung Cerebral Schweiz und die Stiftung Roger Kessler haben das Online-Projekt ins Leben gerufen. Das Redaktionsteam besteht aus Menschen mit cerebraler Bewegungsbehinderung oder Angehörigen. Auch diese Menschen erzählen auf salidu.ch aus ihrem Alltag.

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