Zürcher hebeln Internet-Zensur in der Türkei aus

Aktualisiert

Qual.netZürcher hebeln Internet-Zensur in der Türkei aus

Mit Chips-Dosen gegen die Zensur: Zwei Schweizer Künstler und Internetaktivisten haben in Istanbul ein verborgenes Netz aufgebaut, das die Internet-Blockade im Land umgehen soll.

von
tob

Wer Ende März in der Türkei Twitter.com in die Adresszeile seines Browsers eintippte, bekam nur eine leere Seite angezeigt: Am 21. März hat die Telekommunikationsbehörde (BTK) den Dienst per Gerichtsbeschluss abgeschaltet. Wenige Tage später wurde die Blockade wieder aufgehoben. Letzte Woche dann ist auch die Videoplattform Youtube.com Opfer der Zensur geworden. Der Grund für die Sperren: Über die Plattformen wurden abgehörte Telefongespräche verbreitet, die unter anderem Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan in keinem guten Licht erscheinen liessen. Er selbst besteht darauf, dass die Aufnahmen Teil eines Komplotts sind.

Bis vor kurzem konnten die zensierten Web-Dienste in der Türkei mit einem Trick dennoch aufgerufen werden. Dieser Workaround mit dem öffentlichen DNS-Server von Google (8.8.8.8) funktioniert aber mittlerweile nicht mehr, wie der Internetriese am Samstag auf seinem Blog vermeldete. Ein DNS-Server wandelt Domainnamen wie 20min.ch in die entsprechende IP-Adresse um.

Clandestines Netz für die Türkei

Der aktuellen Situation in der Türkei haben sich nun die Schweizer Künstler Christoph Wachter und Mathias Jud angenommen: «Auf Einladung von Freunden und aus Anlass der Sperrungen von Twitter und Youtube sind wir nach Istanbul gereist», sagt Wachter. Dort setzen sie ihre Open-Source-Software Qual.net ein. Dank des Tools ist es möglich, mit Computern, Handys und Tablets via WLAN ein spontanes Kommunikationsnetz aufzubauen. Chat- und Twitterfunktionen oder Videostreaming werden so unabhängig von Internet und Mobilfunk möglich.

Die Software wird dabei weitergegeben wie ein Virus. Über das Netz kann man auch Telefonieren oder Daten tauschen. Je mehr Geräte dabei sind, desto feinmaschiger wird das Netzwerk. Mit selbst gebauten Antennen, sogenannten Cantennas, wird der Radius erweitert. Diese Antennen werden aus Chips- oder Kaffeedosen gefertigt. In China haben Wachter und Jud mit einer Cantenna bereits eine Strecke von 3,5 Kilometern überwunden. Genutzt wurde Qual.net unter anderem auch in Syrien.

Über Qual.net können türkische Staatsbürger nun Twittern oder auch Videos teilen – trotz der Sperren. Am letzten Samstag organisierten die Medienkünstler zusammen mit Aktivisten einen ersten Workshop zum Thema. Mit Erfolg: «Aufgrund der zahlreichen Anmeldungen, mussten wir die Teilnehmerzahl einschränken», sagt Wachter. Weitere Workshops seien darum bereits in Planung.

Picidae umgeht Firewall in China

Schon in der Vergangenheit haben sich die Künstler mit Machtstrukturen und Abhängigkeitsfragen im Internet befasst: Mit der Webapplikation namens Picidae gelang es Wachter und Jud im Jahr 2007 die restriktive Firewall in China auszuhebeln. Dafür wandelten sie Websites einfach in Bilder um, die dann nicht mehr von Wortfiltern gesperrt werden konnten. Ab dem 23. April sind die Schweizer Künstler am European Media Art Festival in Osnabrück vertreten. Das Motto in diesem Jahr: «We, the enemy.»

Deine Meinung zählt