«Wir sitzen auf einer finanziellen Zeitbombe»

Aktualisiert

Vorsorgesystem«Wir sitzen auf einer finanziellen Zeitbombe»

Die Jüngeren zahlen zu viel für die Älteren: Helvetia-CEO Philipp Gmür warnt vor dem Kollaps des Rentensystems. Ein Gespräch übers Wursteln der Politik, das WEF und Wintersport.

S. Spaeth
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S. Spaeth

Helvetia-CEO Philipp Gmür im Interview mit 20 Minuten. (Video: sas)

Reisen Sie diese Woche noch ans WEF?

Ich gehe nicht ans WEF und war auch noch nie dort. Präsent bin ich jeweils am Swiss Economic Forum. Das WEF ist sicher wichtig. Aber die Mächtigen dieser Welt können auch diskutieren, ohne dass ich zuhöre.

Das WEF wäre doch gut, um die eigene Bedeutung zu unterstreichen …

Ich will mich nicht im Glanz anderer sonnen. Man muss als Manager darauf achten, sich nicht darüber zu definieren, an welchen Anlässen man teilnimmt. Helvetia dienen andere Veranstaltungen mehr. Ich war letzte Woche zum Beispiel am World Web Forum in Zürich.

Sie haben eine lange Helvetia-Karriere hinter sich: Eintritt 1993, CEO wurden Sie dann 2016. Für einen Topmanager ist eine solche Unternehmenstreue ungewöhnlich.

Ich hatte nie die Perspektive, so lange zu bleiben. Helvetia hat sich stets gewandelt, so bekam ich immer wieder die Chance, neue Aufgaben zu übernehmen. Dass Manager ihren Arbeitgeber wechseln, liegt auch daran, dass sie gestalten wollen. Ist das nicht mehr möglich, ziehen sie weiter. Im langfristigen Versicherungsgeschäft ist es aber gut, Leute an Bord zu haben, die auch eine längerfristige Perspektive haben und nicht nur Ziele ankündigen, sondern die Resultate auch liefern.

Geht es so weiter, werden in 15 Jahren zwei aktiv Versicherte einen Rentner finanzieren müssen.

Besteht die Gefahr, dass man als intern aufgestiegener CEO vor ganz harten Massnahmen zurückschreckt?

Der erste Schritt ist die Einsicht, dass dieses Risiko besteht. Ich selber musste auch schon harte Personalentscheide treffen und Leute entlassen. Ein interner Chef macht dies wohl mit mehr Augenmass. Am Ende zählt aber nur der Erfolg. Da spielt es keine Rolle, woher man kommt.

Wechseln wir das Thema: Werden die heute 25-Jährigen im Jahr 2060 noch eine AHV und 2. Säule haben, die zum Leben reicht?

Es braucht dringend Anpassungen. Wir sitzen auf einer finanziellen und gesellschaftspolitischen Zeitbombe. Wir leben einerseits auf Pump, andererseits wird der Gesellschaftsvertrag überstrapaziert. Bei Einführung der AHV 1948 hatten wir im System 6,5 Berufstätige, die einem Rentner gegenüberstanden, vor 10 Jahren waren es 3,5 Berufstätige pro Rentner. Geht es so weiter, werden in 15 Jahren zwei aktiv Versicherte einen Rentner finanzieren müssen.

Wie wollen Sie den System-Kollaps aufhalten?

Wir müssen sofort das Rentenalter von Mann und Frau auf 65 Jahre angleichen, die Beiträge erhöhen und die Leistungen für zukünftige Rentner der gestiegenen Lebenserwartung anpassen. Das geht vor allem über eine Reduktion des Umwandlungssatzes im BVG von 6,8 auf 6 Prozent. Zudem braucht es eine Entpolitisierung der Mindestverzinsung der Pensionskassenguthaben.

Sie warnen zwar, lassen aber die Politiker wursteln. Ihre Branche tut zu wenig.

Wir klären auf und schenken den Leuten reinen Wein ein. Wir sind aber nur Ausführende. Bei der letzten Rentenreform-Abstimmung 2017 fanden wir seitens Helvetia die Lösung mit den 70 Franken zusätzlicher AHV-Rente zwar nicht perfekt, setzten uns aber trotzdem für ein Ja ein. Das Volk schickte die Vorlage bachab. Die Politiker, die uns damals eine bessere Lösung versprachen, sind vor allem im BVG keinen Schritt weiter gekommen. Und im Wahljahr ist das auch nicht zu erwarten.

Im Wahljahr ist das auch nicht zu erwarten.

Erschwerend für unser Vorsorgesystem sind die Negativzinsen …

Die Negativzinsen sind ärgerlich, für die Versicherten und für uns als Versicherer. Helvetia zahlt jährlich einen kleinen einstelligen Millionenbetrag. Die Schwierigkeit ist es, trotz dieses tiefen Zinsumfeldes positive Renditen zu erzielen. Das machen wir verstärkt über Immobilienanlagen und Hypotheken.

Sollte SNB-Präsident Thomas Jordan endlich die Negativzinsen zurückfahren?

Ich sähe lieber höhere Zinsen. Ich hüte mich aber davor, Thomas Jordan Tipps zu geben. Unter dem Strich ist die Schweiz mit ihrer Geldpolitik gut gefahren.

Seit Jahren engagiert sich Helvetia gross im Schneesport. Wie lange wollen Sie das noch weitermachen?

Wir sehen das als langfristiges Investment und haben 2016 den Vertrag mit Swiss Ski um weitere fünf Jahre verlängert. Das kostet uns 2,5 bis 3 Millionen Franken jährlich. Dazu sponsern wir einzelne Athleten. Es geht uns aber nicht nur um Spitzensport. Wir engagieren uns auch im Breitensport und im Nachwuchs.

Einer Ihrer Athleten ist Skispringer Simon Ammann. Leiden Sie mit, wenn es ihm nicht läuft?

Ja, ich leide mit. Zu den Athleten, die wir zusätzlich sponsern, haben wir eine besondere Beziehung. Simon Ammann trat auch schon an internen Anlässen auf. Grundsätzlich gilt: Mir ist es wichtig ist, dass ein Schweizer gewinnt. Aber noch mehr freut mich, wenn es ein Helvetia-Athlet ist.

Haben Sie nicht zu lange auf Simon Ammann gesetzt? Leider kommt er wohl nicht mehr an seine Bestweiten heran.

Helvetia lässt einen Athleten, mit dem man grosse Erfolge gefeiert hat, nicht einfach fallen. Man muss auch Krisen aushalten können.

Ihre Frau ist CVP-Nationalrätin Andrea Gmür-Schönenberger. Sie hat kürzlich das Parlamentarier-Skirennen gewonnen. Können Sie mithalten?

Sie ist zwar etwas schneller als ich auf den Ski. Aber sie muss auch nicht sehr lange auf mich warten.

Chef von 6600 Mitarbeitern

Der Luzerner Philipp Gmür steht seit 2016 an der Spitze des Versicherungskonzerns Helvetia. Das Unternehmen beschäftigt europaweit rund 6600 Personen, den Grossteil davon am Hauptsitz in St. Gallen und am Standort Basel. Helvetia schrieb 2017 einen Gewinn von gut 500 Millionen Franken. Der promovierte Jurist ist mit der CVP-Nationalrätin Andrea Gmür-Schönenberger verheiratet. (sas)

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