«Die Schweiz ist korrupter als gedacht»

Aktualisiert

Fall Seco«Die Schweiz ist korrupter als gedacht»

Negativschlagzeilen bei der Bundesverwaltung: Ein Mitarbeiter des Seco steht unter Korruptionsverdacht. Wohl kein Einzelfall: Die Dunkelziffer betrage 90 Prozent, sagt ein Experte.

Christoph Bernet
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Christoph Bernet
In der Bundesverwaltung gebe es zwar klare Regeln bezüglich Auftragsvergabe, sie würden aber im Alltag zu wenig gelebt, sagt der Korruptionsexperte Jean-Pierre Méan. Im Bild: Das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco).

In der Bundesverwaltung gebe es zwar klare Regeln bezüglich Auftragsvergabe, sie würden aber im Alltag zu wenig gelebt, sagt der Korruptionsexperte Jean-Pierre Méan. Im Bild: Das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco).

Herr Méan*, ein Mitarbeiter des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) soll von einer Informatikfirma VIP-Tickets für Fussballspiele, Reisen und Elektronikartikel erhalten haben. Dafür hat er dem Unternehmen über Jahre hinweg Aufträge zugeschanzt. Wie kann so etwas passieren?

Jean-Pierre Méan: Einerseits haben hier die Kontrollinstanzen versagt. Andererseits haben einige Bundesbeamte immer noch nicht verstanden, dass es in den letzten zehn Jahren einen Kulturwandel gegeben hat: Früher waren Geschenke und kleine Freundschaftsdienste gang und gäbe. Das was jetzt passiert ist, wäre zwar auch früher nicht akzeptiert worden. Allerdings gab es in diesem Bereich kaum Regeln.

Weshalb kommt ein solcher Fall heute noch vor, die Vergabepraxis in der öffentlichen Verwaltung ist doch klar geregelt?

Die Regeln sind zwar klar, aber die Bundesverwaltung lebt noch zu wenig danach. Beim Projekt Insieme der Steuerverwaltung wurden die Beschaffungsregeln auch von hohen Beamten nicht eingehalten. Es wurde in naiver Weise versucht, die Vorschriften zu umgehen.

Verdächtig ist oft die Nähe zwischen der Bundesverwaltung und den Firmen, die von ihr Aufträge erhalten: Viele ehemalige Kader der Verwaltung wechseln in die Privatwirtschaft zu solchen Firmen und nehmen Insiderwissen und persönliche Kontakte mit. Begünstigt diese Nähe die Korruption?

Aus dieser Nähe kann eine ungerechtfertigte Begünstigung entstehen. Genau deshalb braucht es Kontrollen. Öffentliche Verwaltungen sollten eine zentrale Datenbank anlegen, in der alle freihändig vergebenen Aufträge verzeichnet werden. So lässt sich kontrollieren, ob bei kleineren Aufträgen immer wieder solche Firmen zum Zug kommen, die eine Nähe zur Verwaltung aufweisen.

Ist diese Nähe nicht auch bei grossen, öffentlich ausgeschriebenen Aufträgen problematisch?

Bei den grossen Aufträgen ist es ein Problem, dass die Firmen das Pflichtenheft beeinflussen können, mit dem der Auftrag definiert wird. Es passiert immer wieder, dass Pflichtenhefte so gestaltet werden, dass nur eine einzige Firma die Anforderungen erfüllen kann. Die Personen, welche die Pflichtenhefte erstellen, müssen die nötige Unabhängigkeit haben.

In der Dritten Welt wird die Korruption of damit erklärt, dass die Beamten zu wenig verdienen. Das ist in der Schweiz nicht der Fall. Weshalb verstösst jemand für ein Fussball-Ticket gegen das Gesetz?

Wegen der menschlichen Gier, die keine Grenzen kennt. Deshalb erliegt auch ein gutverdienender Beamter der Verlockung. Es stimmt übrigens nur mit Einschränkungen, dass Drittwelt-Beamte wegen mangelnder Bezahlung quasi auf Bestechungsgelder angewiesen sind. Natürlich kommt es vor, dass beispielsweise Polizisten während Monaten keine Löhne erhalten und deshalb Schmiergelder annehmen. Aber es gibt auch Politiker und Funktionäre, die sich mit Millonensummen schmieren lassen, obwohl sie schon reich sind.

Regelverstösse kommen auf allen Ebenen vor, von der Spitze der eidgenössischen Steuerverwaltung bis hin zum Hausabwart einer Schule, der einem befreundeten Handwerker kleine Aufträge zuschanzt. Hat die Korruption in der Schweiz System?

Unser Land ist auf jeden Fall korrupter, als wir gedacht haben. Ich glaube aber nicht, dass die Korruption in der Schweiz endemisch ist und System hat. Es werden einfach mehr Fälle publik: In der heutigen Welt mit ihren technologischen Möglichkeiten wird es schwieriger, Korruption unter den Teppich zu wischen. Das ist eine positive Entwicklung.

Bisher hatten viele Schweizer den Eindruck, sie lebten auf einer korruptionsfreien Insel. Sind wir angesichts der neusten Fälle überhaupt noch besser als andere Länder?

Ich weiss nicht, wie sich die Position der Schweiz im Vergleich zu anderen Ländern verändert hat. Auf jeden Fall müssen wir unsere Sicht auf die Schweiz anpassen: Das Vertrauen ist erschüttert worden.

Wie hoch liegt die Dunkelziffer?

Bei Korruptionsfällen ist die Dunkelziffer immer hoch, da keine der involvierten Parteien ein Interesse daran hat, dass etwas bekannt wird. Ich gehe davon aus, dass über 90 Prozent der Korruptionsfälle nie bekannt werden, sowohl in der öffentlichen Verwaltung als auch in der Privatwirtschaft.

Was kann man gegen Korruption unternehmen?

In der Verwaltung braucht es flächendeckende Schulungen und Meldestellen, auch in den Kantonen. Nur so kann ein Kulturwandel stattfinden und können die Kontrollen verstärkt werden. Ausserdem müssen die neusten Fälle richtig aufgearbeitet werden, um ein starkes Signal an die Beamten zu senden. In der Privatwirtschaft greifen die bestehenden Gesetze nicht, weil die private Korruption bloss ein Antragsdelikt ist und kein Offizialdelikt und so nicht von Amtes wegen verfolgt werden muss. Da in einem Korruptionsfall keine der involvierten Parteien einen Grund hat, Anzeige zu erstatten, werden kaum je Fälle juristisch verfolgt. Deshalb ist es nötig, dass auch private Korruption zu einem Offizialdelikt erklärt wird.

*Zur Person:

Dr. Jean-Pierre Méan ist Präsident von Transparency International Schweiz. Die NGO setzt sich gegen Korruption in Behörden und Privatwirtschaft ein.

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