Schweizer GefängnisseHäftling fordert wegen Corona Entlassungen
Zehntausende Gefangene werden auf der ganzen Welt wegen Corona entlassen – doch nicht so in der Schweiz. Man nehme in Kauf, dass sich Häftlinge mit dem Virus infizieren, befürchtet ein Insasse.
In Italien protestierten Häftlinge gegen die Massnahmen der Regierung, um das Coronavirus einzudämmen.
Das Coronavirus macht auch vor den Gefängnismauern nicht Halt. Ist das Virus in einer überbelegten Haftanstalt angekommen, kann es sich dort besonders schnell verbreiten, weil Social Distancing kaum möglich ist. Weltweit rebellieren Häftlinge in zahlreichen Gefängnissen gegen diese Zustände.
Die Uno und Papst Franziskus riefen die internationale Gemeinschaft dazu auf, Risikopatienten unter den Häftlingen vorzeitig zu entlassen, um Tragödien zu vermeiden. Viele Länder folgten dem Aufruf. Zehntausende Häftlinge in Frankreich, Griechenland und weiteren Ländern, die keine Gefahr für die Allgemeinheit sein sollen, erhalten eine Amnesie – allein der Iran lässt vorübergehend 85'000 Häftlinge frei.
«Wir sind wie Sardinen in einer Konservendose»
Ein Häftling der Strafanstalt Saxerriet in Sennwald (SG) fordert auch in der Schweiz Freilassungen von Gefangenen. Er sagt zu 20 Minuten: «In vielen anderen Ländern werden Häftlinge vorzeitig entlassen, wenn sie keine schweren Verbrechen begangen haben und noch wenige Monate absitzen müssen. In der Schweiz hingegen nimmt man in Kauf, dass sich Häftlinge mit dem Virus infizieren.»
Die Hygienemassnahmen könnten im Gefängnis schlicht nicht eingehalten werden, da es am Platz fehle: «Bei uns in Saxerriet ist ein Block zur Quarantänestation geworden. Trotzdem duschen wir zusammen. Wir sind wie Sardinen in einer Konservendose.» Auch gebe es viele Verschiebungen zwischen den Gefängnissen, sodass immer wieder Personen von draussen hinzukämen. Eine Anfrage an die Strafanstalt Saxerriet zu den Vorwürfen blieb bisher unbeantwortet.
Seit es auch in Schweizer Haftanstalten Corona-Infizierte gibt (siehe Box), werden Forderungen nach frühzeitigen Entlassungen von Strafgefangenen laut. Gefangene, die keine akute Gefährdung der Öffentlichkeit darstellen, sollen unter Auflagen nach der Hälfte der verbüssten Strafe entlassen werden.
Tatsächlich sieht das Strafgesetzbuch in Ausnahmefällen eine solche Regelung vor – ob sie in Kraft tritt, entscheiden die kantonalen Vollzugsbehörden. Die Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren (KKJPD) teilt auf Anfrage mit, dass trotz der aktuellen Corona-Krise noch keine solchen Fälle bekannt sind.
Polizeidirektoren empfehlen Aufschub des Haftantritts
Der stellvertretende KKJPD-Generalsekretär Alain Hofer sagt zu 20 Minuten: «Es ist nicht möglich und rechtlich nicht zulässig, Gefangene vorsorglich einfach nach der Hälfte bedingt zu entlassen, nur weil sie einer Risikogruppe angehören.»
Die KKJPD empfehle, nicht von der allgemeinen Praxis abzuweichen. Zielführender sei es etwa, planbare Haftaufgebote von verurteilten Personen aufzuschieben und so das Gesamtsystem zu entlasten.
Auch Mathias Fässler, Leiter des Amts für Justizvollzug in Graubünden, findet generelle Haftentlassungen oder Haftunterbrüche nicht das richtige Mittel. «Wir müssen das Risiko für die Allgemeinheit abwägen, sagt er zu 20 Minuten. «Eine grosse Zahl der Insassen gehört zur Gruppe der besonders gefährdeten Personen. Deshalb kann man nicht von Ausnahmefällen sprechen. Allenfalls wird es in Einzelfällen zu prüfen sein». In Graubünden gebe es aber nur Einzelzellen.
Präventionsmassnahmen in Gefängnissen verschärft
Um die Gefängnisse in Graubünden zu entlasten, verschiebt die Bündner Behörde wie von der KKJPD empfohlen Haftaufgebote etwa bei nicht bezahlten Bussen. Auch das kantonale Amt für Justizvollzug in Zürich findet einen Aufschub des Haftantritts die geeignetere Massnahme, wie es auf Anfrage heisst. Ein Vorteil: In Ostschweizer Gefängnissen sei die Belegung in den aktuell vergleichsweise tief.
Als Präventionsmassnahme in den Gefängnissen legt die KKJPD den Fokus auf die Umsetzung der Abstands- und Hygienemassnahmen. «In den Anstalten wurden die Besuchs- und Ausgangsregelungen angepasst und verschärft», sagt Hofer. In Graubünden wurden etwa der Urlaub im offenen Vollzug und Besuche gestrichen. Dafür könnten die Insassen mehr telefonieren und skypen.
27 Häftlinge frei gelassen
Der Kanton Bern hat wegen der Corona-Pandemie 27 Gefangene nach Hause geschickt, wie die «Solothurner Zeitung» berichtet. Die Hälfte war im offenen Vollzug, die andere in Halbgefangenschaft. Sämtliche der freigelassenen Häftlinge mussten nur die Nacht im Gefängnis verbringen und genossen tagsüber viele Freiheiten. Zudem gehören sie einer Coronarisikogruppe an und verfügen über ein intaktes soziales Umfeld.
Es ist nicht die einzige Massnahmem, die der Kanton Bern ergriffen hat, um die Belegung in den Gefängnissen während des Notstandes tief zu halten: Personen, die eine Kurzstrafe absitzen müssen, etwa weil sie eine Busse nicht beglichen haben, werden in aller Regel nicht aufgeboten. Sie müssen ihre Strafe erst verbüssen, wenn sich die Lage normalisiert hat.
Sars-CoV-2 wurde bereits in 35 Fällen in Schweizer Justizvollzugsanstalten nachgewiesen. In zwei Fällen sind Insassen betroffen, in den übrigen 33 Personal.Der stellvertretende KKJPD-Generalsekretär Alain Hofer versichert gegenüber 20 Minuten: «Der Anstaltsbetrieb und die Sicherheit sind derzeit in allen Anstalten des Freiheitsentzugs gewährleistet.» Infizierte Insassen würden nach Möglichkeit in der Zelle oder in einem Krankenzimmer isoliert. Bei schweren Verläufen würden die Kantone individuelle Planungen erarbeiten.