Libyen-AffäreBundesrat wusste nichts von Militäraktion
Zur Befreiung der Libyen-Geiseln gab es laut Bundespräsidentin einen Einsatzbefehl. Dass der Gesamtbundesrat davon nichts wusste, sorgt für Empörung.
Der Gesamtbundesrat wusste von den Plänen, die beiden Geiseln Max Göldi und Rachid Hamdani in einer militärischen Aktion aus Libyen zu befreien – allerdings erst sehr spät. Er verurteilte diese Überlegungen nicht grundsätzlich, will in Zukunft aber früher involviert werden. Das sagte Bundespräsidentin Doris Leuthard am Montag vor den Medien in Bern in einer Erklärung. Fragen durften die Journalisten keine stellen. Der Bundesrat habe sich aufgrund von Indiskretionen genötigt gesehen, Stellung zu nehmen. Er verurteile solche Indiskretionen aufs Schärfste, sagte Leuthard. Diese Informationen unterlägen der höchsten Geheimhaltung.
Der Gesamtbundesrat hatte erstmals am 3. Februar 2010 von den Plänen erfahren. Er hat den Vorstehern des Aussendepartements sowie des Verteidigungsdepartements, Micheline Calmy-Rey und Ueli Maurer, den Auftrag erteilt, in einem Bericht drei Fragen zu beantworten: Wer hat wann was gewusst; wer hat den Einsatzbefehl gegeben und später zurückgezogen; und auf welcher Rechtsgrundlage ist dies geschehen. Nach Vorliegen dieses Berichts ab 15. Februar hat Leuthard ein Rechtsgutachten in Auftrag gegeben, um die Rechtmässigkeit des Vorgehens abzuklären. Diese Berichte diskutierte die Landesregierung VBS am 22. März.
Bundesrat monatelang unwissend
Damit wusste der Gesamtbundesrat vermutlich rund eineinhalb Jahre nichts über diese geheime Aktion. Wann genau die Sicherheitsdienste konkrete Pläne ausgearbeitet hatten, ist unklar. Laut Tages-Anzeiger sei es zum Jahreswechsel 2008/2009 zweimal beinahe zu einer Aktion gekommen, bei der die Geiseln über Algerien beziehungsweise Niger hätten ausreisen sollen. Bereits im Herbst 2008 gab es aber offenbar Pläne, die Geiseln aus Libyen zu schmuggeln. Laut Radio Télévision Suisse (RTS) plante der Bund im September 2009 nochmals eine Geiselbefreiung.
Es sei nicht zu beanstanden, dass auch der Einsatz von Sicherheitskräften geprüft wurde, sagte Leuthard. Der Bundesrat will aber künftig rechtzeitig involviert werden. Er hat die zuständigen Departemente angewiesen, dies sicherzustellen. Die Diskussion und die Papiere habe der Bundesrat aus Rücksicht auf die Geiseln als geheim klassifiziert. Am Montag habe sich der Bundesrat zudem von der Geschäftsprüfungsdelegation informieren lassen. Diese Informationen seien aber nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Neben den erlassenen Weisungen sehe der Bundesrat keinen weiteren Handlungsbedarf, sagte Leuthard. Es sei Aufgabe der Geschäftsprüfungskommission, in ihrem Bericht dazu allenfalls Stellung zu nehmen.
«Fast eine Staatskrise»
Die Erklärung von Bundespräsidentin Doris Leuthard zur Libyen-Affäre wirft Fragen auf. Strategieexperte Albert Stahel bezeichnet die Vorgänge rund um die Pläne für eine Geiselbefreiung in Libyen als «sehr heikel». «Wenn tatsächlich ein Einsatzbefehl erteilt wurde, ohne dass der Gesamtbundesrat dies entschieden hat, ist das fast eine Staatskrise», sagte Stahel, Dozent für Strategische Studien an der Universität Zürich. Ein solcher Entscheid müsse zwingend vom Gesamtbundesrat gefällt werden. Sei die Gesamtregierung nicht involviert gewesen, verletze dies die Verfassung. Offenbar sei nicht mehr klar gewesen, wer was zu entscheiden habe. Dies sei sehr gefährlich.
Einiges hängt laut Stahel von der Frage ab, welche Einheit zum Einsatz kommen sollte. Sei es das Armee-Aufklärungsdetachement 10, wäre Armeechef André Blattmann für den Einsatzbefehl zuständig - nach erfolgtem Auftrag durch den Gesamtbundesrat. Ein Departementschef könne einen solchen Auftrag nicht erteilen, hielt Stahel fest. Der Militär- und Geheimdienstexperte beurteilt die ganze Situation als «ziemlich ausserordentlich». In der Vergangenheit habe es auch schon Überlegungen für Aktionen im Ausland gegeben, doch sei es bei «Papierarbeit» geblieben. (mdr/sda)
Reaktionen
«Ich staune», sagte Jakob Büchler (CVP/SG), Präsident der Sicherheitspolitischen Kommission des Nationalrates (SiK), am Montag. Die Worte von Bundespräsidentin Doris Leuthard zeigten, dass die Schweiz «nicht weit weg» gewesen sei von einer militärischen Aktion in Libyen.
«Offenbar stand die Aktion bevor», sagte Büchler. Bisher sei er davon ausgegangen, dass lediglich darüber nachgedacht worden sei. Leuthards Rede vom erteilten und zurückgezogenen Einsatzbefehl zeige aber, dass es sich um weit mehr als blosse Überlegungen gehandelt habe.
Persönlich halte er einen solchen Entscheid für «sehr heikel», sagte Büchler. Ein militärischer Einsatz in Libyen wäre «hoch gefährlich» gewesen. «Dies hätte in einer absoluten Katastrophe enden können.»
Erstaunt darüber, dass Leuthard am Montag von einem «Einsatzbefehl» sprach, zeigten sich auch andere Mitglieder der SiK. Ulrich Schlüer (SVP/ZH) sagte, dies widerspreche der Erklärung, die Aussenministerin Calmy-Rey praktisch gleichzeitig vor den Mitgliedern der Aussenpolitischen Kommission (APK) abgegeben habe.
Calmy-Rey habe gesagt, die Befreiungsaktion sei im Rahmen der üblichen Evaluation aller Möglichkeiten geprüft worden. Wenn es einen Einsatzbefehl gegeben habe, sei dies «etwas vollkommen Anderes», sagte Schlüer.
Seines Erachtens könne nur der Gesamtbundesrat eine solche «kriegsähnliche» Handlung beschliessen. Für den Befehl zuständig sei dann ein Kommandant, doch dieser müsse von der Regierung beauftragt werden.
Auch Jo Lang (Grüne/ZG) macht der Begriff «Einsatzbefehl» stutzig. Für ihn steht nun die Frage im Zentrum, ob die Eliteeinheit der Armee (Armee-Aufklärungsdetachement 10) involviert war oder lediglich der Geheimdienst. «Wenn die AAD 10 involviert war, ist es schwerwiegend», sagte Lang.
Im Weiteren habe Leuthards Erklärung gezeigt, dass es im Bundesrat in Sachen Kommunikation sehr schlecht stehe, sagte Lang.