Fall Entlisberg«Sie wirkte wie tot»
Die Misshandlungen im Zürcher Pflegezentrum Entlisberg haben Angehörige von Patienten aufgerüttelt: Viele haben Erfahrung mit schlecht geführten Abteilungen in Pflegeheimen. So auch Ruth M.*, deren Mutter mit starken Medikamenten wochenlang betäubt wurde.
Der Pflegeskandal im Entlisberg schockiert die Leser von «20 Minuten Online». Gestern berichtete eine Angehörige, was ihr Vater dort erlebt hatte. «Er war mit Blessuren und Blutergüssen übersät gewesen und erzählte, dass andere Patienten vom Pflegepersonal «drankommen». Zudem habe in seinem Portemonaie regelmässig Geld gefehlt (20 Minuten Online berichtetete). Viele Leser haben selbst pflegebedürftige Angehörige und waren über deren schlechte Betreuung in anderen Pflegeheimen entsetzt.
Mit Medis vollgepumpt
Ruth M.*'s Mutter musste wegen Demenz vor zweieinhalb Jahren in ein Pflegeheim in Basel eingewiesen werden. Schon nach wenigen Tagen war sie mit fünf bis sechs verschiedenen Medikamenten derart vollgepumpt, dass sie nur noch teilnahmslos im Bett lag. «Sie wirkte wie tot, als wir sie besuchten», erzählt Ruth M. Zudem seien die Zustände im Zimmer katastrophal gewesen. «Es stank nach Urin, und die Patienten wurden kaum gepflegt, weil es viel zu wenig Personal gab», so Ruth M. Zudem habe es ständig Wechsel beim Personal gegeben.
Heimleitung und Pfleger reagierten arrogant und abweisend
Zusammen mit ihrer Schwester forderte sie sofort eine Erklärung für diese desolaten Zustände und wollte wegen der Medikamente die Ärzte sehen. Ihre Mutter war nämlich medikamentenfrei gewesen, bis sie in die Pflegewohngruppe kam. Doch Pfleger und Heimleitung hätten nur arrogant und abweisend auf ihre Fragen und Forderungen reagiert. «Man erklärte uns, unsere Mutter sei unruhig und schwierig, darum müsse sie die Pillen nehmen.» Dabei seien ihr Wirkstoffe verabreicht worden, die demente Patienten nachweislich nicht einnehmen sollten, so Ruth M.
Die Mutter bekam offene Beine und Füsse
Erst als sie bei der städtischen Leiterin der Pflegeheime in Basel vorsprach und eine Umplatzierung verlangte, ging man auf sie ein. «Mittlerweile hatte meine Mutter offene Füsse und Beine und es ging ihr sehr schlecht.» Das neue Heim war für Ruth M. wie ein Paradies nach den vorherigen Erfahrungen. Endlich wurde ihre Mutter fürsorglich betreut und alle Medikamente Schritt für Schritt wieder abgesetzt. «Danach ging es ihr besser, sie lebte aber nicht mehr lange», so Ruth M. Für sie ist klar: Daran ist auch die schlechte Behandlung im ersten Heim schuld.
Für Erika Ziltener vom Dachverband für Patientenstellen ist das kein neues Phänomen. «Wir machen immer wieder darauf aufmerksam, dass besonders bei Personalmangel Patienten mit Medikamenten ruhiggestellt werden.» Sie rät Angehörigen sich in solchen Fällen sofort an die Pflegedienstleitung zu wenden. Nützt das nichts, sollten unabhängige Instanzen oder Behörden eingeschaltet werden. «Etwa die Patientenstelle, die unabhängige Beschwerdestelle fürs Alter oder auch ein Politiker.»
*Name geändert, der Redaktion bekannt