«Irgendwie musste ich mir ja Gehör verschaffen»

Aktualisiert

75-Jährige nach Tat«Irgendwie musste ich mir ja Gehör verschaffen»

Die mutmasslich psychisch kranke Täterin beschäftigte die Behörden jahrelang. Sie und ihr Lebenspartner fühlten sich als Opfer einer korrupten Justiz.

von
lha
Der 7-jährige Schüler befand sich auf dem Heimweg von der Schule, als er erstochen wurde.
Der Schüler wurde auf offener Strasse getötet.
Kurz darauf stellte sich eine 75-Jährige Schweizerin der Polizei.
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Der 7-jährige Schüler befand sich auf dem Heimweg von der Schule, als er erstochen wurde.

20 Minuten

Zwei Wochen nach der Bluttat von Basel, bei der die 75-jährige, geistig verwirrte A. F.* den siebenjährigen Ilias mit einem Messer erstach, sind die Hintergründe der Tat nach wie vor nebulös. Hinweise auf das Tatmotiv lieferte ein Anruf der Täterin bei Telebasel. Dort sagte sie: «Ich wurde aus meiner Wohnung geschmissen, habe gar keinen Zutritt mehr zu meiner Wohnung. Bei den Behörden hört mir ja auch keiner zu. Irgendwie musste ich mir ja Gehör verschaffen» – und legte auf. Dann stellte sie sich der Staatsanwaltschaft.

Die Aussagen passen zum Vorleben der Rentnerin, die, wie Recherchen von 20 Minuten nun zeigen, als notorische Querulantin seit Jahrzehnten den Behörden bekannt war.

Zusammen mit ihrem sieben Jahre älteren Lebenspartner R. R.* wohnte F. gut 17 Jahre lang in einem Allschwiler Wohnblock. Kaum war es eingezogen, hatte das Paar jedoch regelmässig Besuch von der Polizei. Grund dafür waren mehrere Konflikte mit der Justiz, die vor allem ihr Lebenspartner ausfocht. Dieser wähnte sich als Opfer einer «Justizkorruptionsaffäre». Der Streit ist auch bei der Petitionskommission des Baselbieter Landrats aktenkundig, die Dokumente sind aber noch unter Verschluss.

Die «Justizkorruptionsaffäre» beschäftigte auch die Bundesbehörden bis hoch zum Nationalratspräsidenten. Im Bundesarchiv in Bern füllt die Korrespondenz zwischen R. und den Behörden ein über 300 Seiten dickes Dossier. Die meisten der Briefe hat A. F. mitunterzeichnet.

Pfändung, Strafbefehl, Haftbefehl

Anlass für einen jahrelangen Zwist mit den Behörden waren eine Pfändung von Briefmarken und Münzen, die 1979 widerrechtlich verfügt worden sein soll, sowie ein Strafbefehl, den R. 1980 kassierte, weil er einem Aufgebot für den Zivilschutz nicht Folge geleistet hatte. R. weigerte sich, die Busse anzuerkennen. «Die Kantonspolizei drohte unter der Haustür nun lautstark mit Haftbefehl», ist in einem «Tatsachenbericht» festgehalten, den R. als Beilage dem Nationalratspräsidenten zukommen liess.

Die Polizei tauchte mehrfach an der Haustür des Paars auf, R. weigerte sich stets, zu öffnen. Es wurden neuerliche Strafbefehle ausgestellt, Betreibungen und Pfändungen eingeleitet. R. wehrte sich mit Beschwerden, Rekursen, Anklagen, gelangte sogar bis nach Strassburg. «Seit April 1981 warten wir auf eine erlösende Stellungnahme aus Strassburg. [...] Die Justiz benützt die lange Wartezeit dazu, uns zu ruinieren.»

«Wenn Politiker versagen, sprechen die Waffen», schrieb R. am 24. Juli 1985 in einem Einschreiben an den damaligen Nationalratspräsidenten Arnold Koller. Seit Jahren prangerte er eine Justizkorruptionsaffäre an und bezichtigte Gerichte und Beamte verbrecherischer Machenschaften, weil sie nicht auf seine Beschwerden eintraten.

Vom Staat verraten und entmündigt

1997 schliesslich wurde das Paar aus der Wohnung in Allschwil gewiesen und fand in einem Apartmenthaus in Basel-Stadt eine neue Bleibe. Im März 1999 verstarb der Partner von F. Nach dem Schicksalsschlag wuchs ihr Schuldenberg. 2007 wurde sie bevormundet, wobei unklar ist, wie weit sie entmündigt wurde. Medienberichten zufolge wurde sie in der Folge mindestens einmal stationär psychiatrisch behandelt. Litt sie an einer paranoiden Störung?

Vergangenen Sommer dann der nächste Schicksalsschlag: A. F. musste ihr Zimmer im Apartmenthaus an der Schützenmattstrasse verlassen, weil das Gebäude umgenutzt werden soll. Als die Hiobsbotschaft sie erreichte, wandte sie sich am 26. März mit einem Einschreiben an den Landrat und ihre ehemaligen Vermieter aus Allschwil. Darin beschwerte sie sich, dass die Ausweisung 1997 rechtswidrig gewesen sei und verlangte offensichtlich verzweifelt die Rückgabe ihrer alten Wohnung, bis spätestens 30. Juni 2018.

Danach tauchte die Frau ab und verschwand auch vom Radar der Behörden. Bis jetzt ist unklar, wo sie die letzten Monate unterkam. Vielleicht bei Bekannten? Am 21. März schliesslich brannten bei F. alle Sicherungen durch, und sie erstach den siebenjährigen Ilias auf dem Heimweg von der Schule am St. Galler-Ring. Danach kontaktierte sie mehrere Personen, Institutionen.

Abgetaucht und durchgedreht

Die Behörden weisen jede Verantwortung von sich. Die Tat sei unter keinen Umständen vorhersehbar gewesen, hielt das für den Erwachsenenschutz zuständige Departement für Wirtschaft, Soziales und Umwelt in einer Stellungnahme fest. Ob bei ihr ein Risikogutachten erstellt wurde, ist nicht bekannt.

F. sitzt in Untersuchungshaft und wird nun psychiatrisch abgeklärt.

*Namen der Redaktion bekannt

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