Leben im «gefährlichsten Ort der Schweiz»

Aktualisiert

Zu Besuch im Berner FärmeltalLeben im «gefährlichsten Ort der Schweiz»

Das Färmeltal im Oberland liegt im höchsten Lawinen-Gefahrenbereich. Um ihre Existenz fürchten die Bewohner aber nicht wegen der Naturgewalt, sondern wegen der Baugesetze.

von
S. Ulrich

Bewohner des Färmeltals erzählen, wie sie sich gegen die Lawinen wappnen. (Video: sul)

Eine tiefe Ruhe liegt an diesem Morgen über dem Färmeltal bei St. Stephan. Nur das Pfeifen des Windes, das Auto des Pöstlers und ein im Schnee herumtollender Hund sind zu hören. Hier also, 15 Autominuten von der Lenk entfernt, soll der «gefährlichste Ort der Schweiz» liegen, wie die «Sonntagszeitung» letzte Woche titelte.

Nahezu die gesamte Talschaft, rund 100 Personen in 59 Gebäuden, befindet sich im roten Lawinen-Gefahrenbereich. Rot heisst: Eine Lawine kann ganze Gebäude dem Erdboden gleichmachen. Derartige Katastrophen hat es im Färmel, wie die Bewohner ihr Tal nennen, schon gegeben: 1739 starben bei einem Lawinenniedergang eine Mutter und vier Kinder, 1954 ein Mann.

Ab Stufe 4 Haus nicht verlassen

Wer sich jedoch mit den Einheimischen unterhält, merkt schnell: Lawinen bringen hier niemanden aus der Ruhe. Man sei mit der Gefahr aufgewachsen und könne gut damit umgehen, heisst es unisono. «Hätte ich bei Schnee und Lawinengefahr die Wahl, ob ich mit dem Auto nach Zürich fahre oder hier bleibe, würde ich mich für letzteres entscheiden», sagt Jürg Grünenwald (45), Landwirt und ehemaliger Gemeinderat für öffentliche Sicherheit. Durch die Lawinenmauern und Schutzräume im Keller sei man relativ sicher. «Kommt hinzu, dass nur an ein paar Tagen im Winter akute Lawinengefahr herrscht.»

Ein Tal sieht Rot: Fast das gesamte Färmeltal liegt im höchsten Lawinen-Gefahrenbereich.
Betroffen sind rund 100 Personen (inkl. Feriengäste) in 59 Gebäuden.
Spätestens ab Gefahrenstufe 4 wird die Zufahrtsstrasse zum Tal gesperrt.
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Ein Tal sieht Rot: Fast das gesamte Färmeltal liegt im höchsten Lawinen-Gefahrenbereich.

Geoportal Kanton Bern

An solchen Tagen, spätestens bei Lawinenstufe 4, ist das Färmeltal von der Welt abgeschnitten: Die Zufahrtsstrasse wird gesperrt, der Schulbus verkehrt nicht mehr. Die Bewohner sind angehalten, sich drinnen aufzuhalten und bergseits die Läden zu schliessen. Man müsse eben schauen, dass der Vorrat ein paar Tage reiche, sagt Erna Gobeli (68), die zeitlebens im Färmel lebte. Doch das sei in einer abgeschiedenen Bergregion nichts Aussergewöhnliches. Wie selbstverständlich fügt sie hinzu: «Ich brauche nicht jeden Tag frisches Brot.»

Lex Färmel soll Existenz sichern

Vielmehr Kopfzerbrechen als die Lawinengefahr bereiten den Färmeltalern derzeit die geltenden gesetzlichen Bestimmungen. Laut diesen dürfen im roten Gefahrengebiet keine Gebäude neu errichtet und erweitert werden, in denen sich Mensch und Tier aufhalten (s. Box). Deshalb sei die Gefahrenkarte noch nicht ins Baureglement integriert worden, erklärt Gemeindepräsident Albin Buchs (54): «Mit dieser Regelung wäre es nicht mehr möglich, eine Wohnung auszubauen oder nach den heutigen Standards zu erweitern, sie nach einem Brand wieder aufzubauen oder einen Stall zu vergrössern.»

Aufgrund der aussergewöhnlichen Gegebenheiten im Färmeltal verlangt die Gemeinde vom Kanton eine Ausnahmeregelung, eine sogenannte Lex Färmel, damit bauliche Massnahmen und Entwicklungen unter Berücksichtigung des Objektschutzes weiter möglich wären. Ansonsten drohe dem Tal, das historisch seit 700 Jahren besiedelt sei, auf lange Sicht die Entvölkerung, sagt Buchs. Dagegen wehrt er sich: «Die Bevölkerung des Färmeltals soll weiterhin dort leben und sich entfalten können.»

Grünenwald sieht vor allem jene Gebäude in Gefahr, die einst der Landwirtschaft dienten und die heute etwa Feriengäste beherbergen. «Solche Hütten wären längerfristig kaum mehr nutzbar, wenn man baulich nichts verändern darf.» Der Bauer spricht von «Enteignung» – und von «Verhältnisblödsinn»: Im Färmeltal gebe es 300 Jahre alte Gebäude, die noch nie mit einer Lawine in Berührung gekommen seien. «Die Gefahr, dass mein Haus abbrennt, ist zigfach grösser, als dass es von einer Lawine beschädigt wird.» Es sei sinnlos, die Menschen aus dem Färmeltal abziehen zu wollen. Grünenwald: «Mit gewissen Gefahren muss der Mensch einfach leben – ob in den Bergen oder in der Stadt.»

Das sagt der Kanton

Ausnahmeregelung für ihr Baureglement, sodass im Färmeltal trotz rotem Lawinen-Gefahrenbereich Gebäude auch in Zukunft wieder aufgebaut und erweitert werden können. Daniel Wachter, Vorsteher beim Amt für Gemeinden und Raumordnung, stellt jedoch klar: «Das kantonale Baugesetz gibt diesbezüglich klare Vorgaben, Ausnahmen sind nicht möglich.»

«keine Bauten und Anlagen errichtet oder erweitert werden, die dem Aufenthalt von Mensch und Tier dienen». Auch hier gelte aber das Prinzip der Besitzstandswahrung, wie Wachter betont: «Es müssen keine Bauten oder Anlagen zurückgebaut werden. Zudem dürfen sie unterhalten und zeitgemäss erneuert werden.»

nicht genehmigungsfähig», so Wachter.

haftungsrechtlich belangt werden könnte.» Rein rechtlich bestünde zudem die Möglichkeit, dass der Kanton anstelle Gemeinde die entsprechenden Anpassungen vornimmt. Wachter: «Zurzeit ist aber nicht davon auszugehen, dass dies nötig sein wird.»

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