Sexueller Missbrauch über Jahrzehnte ignoriert

Aktualisiert

Strafanstalt HindelbankSexueller Missbrauch über Jahrzehnte ignoriert

Zwischen 1930 und 1980 wurden administrativ versorgte Frauen systematisch missbraucht. Die Verantwortlichen schauten weg – oder bestärkten gar die Sünder.

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Das Frauengefaengnis Hindelbank, aufgenommen im Jahr 1970. Wie in vielen anderen Straf- und Arbeitsanstalten grassierte auch hier der sexuelle Missbrauch.
Die sexuellen Übergriffe reichten «von Belästigung bis hin zu mehrfachen Vergewaltigungen», sagt Loretta Seglias, Kommissionsmitglied und Forschungsleiterin der Unabhängigen Expertenkommission.
Frauen, die sich gesträubt hätten, sich den gesellschaftlichen Gepflogenheiten anzupassen, seien früher oder später in Hindelbank gelandet.
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Das Frauengefaengnis Hindelbank, aufgenommen im Jahr 1970. Wie in vielen anderen Straf- und Arbeitsanstalten grassierte auch hier der sexuelle Missbrauch.

Keystone/str

50'000 bis 60'000 Frauen und Männer wurden in der Schweiz zwischen 1930 und 1980 «administrativ versorgt», also in geschlossene Anstalten gesteckt, weil ihre Lebensführung von der gesellschaftlichen Norm abwich.

Eine unabhängige Expertenkommission hat den behördlich angeordneten Freiheitsentzug für Unschuldige während vier Jahren untersucht. Im September legt sie ihren Schlussbericht vor – bereits am Montag sind aber die letzten Teilberichte erschienen.

Die Dokumente zeigen: Machtmissbrauch, miserable Hygienebedingungen und Sanktionen waren im Alltag der administrativ versorgten Frauen weit verbreitet.

Traumatisiert statt sozial unauffällig

So auch in der Berner Straf- und Arbeitsanstalt Hindelbank. Diese sei «schlicht ein Gefängnis» gewesen und habe «am Ende einer Eskalationskette» gestanden, sagt Kommissionsmitglied und Forschungsleiterin Loretta Seglias zur «Berner Zeitung» (Bezahlartikel). Frauen, die sich gesträubt hätten, sich den gesellschaftlichen Gepflogenheiten anzupassen, seien früher oder später dort gelandet.

Das Ziel, die Insassen zu sozial unauffälligen Bürgern zu erziehen, sei «nicht im Ansatz» erreicht worden, sagt Seglias. Im Gegenteil: «Unsere Forschung zeigt, dass viele Frauen und Männer die Institutionen traumatisiert wieder verlassen haben.»

Sex mit dem Wäscherei-Meister

Das hat insbesondere auch mit dem sexuellen Missbrauch zu tun, der in den Anstalten grassierte. Allein in Hindelbank sind mehrere Fälle dokumentiert. Etwa jener eines Wäschemeisters, der regelmässig Insassinnen während der Arbeitszeit zum Geschlechtsverkehr drängte. Als eine der Frauen den Mann bei der Direktion anzeigte, schenkte man ihr keinen Glauben. Im Gegenteil: Wegen Verleumdung erhielt sie eine dreimonatige Strafe in Form eines strengeren Haftregimes.

Die sexuellen Übergriffe reichten «von Belästigung bis hin zu mehrfachen Vergewaltigungen», sagt Seglias. Sie fänden sich in allen untersuchten Anstalten und seien systematisch unter dem Deckel gehalten worden.

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