«Bleibt nur die Sanierung unter Vollnarkose»

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Kreidezähne«Bleibt nur die Sanierung unter Vollnarkose»

Zahnarzt Rolf Ammann muss zunehmend Sanierungen bei Kindern mit Kreidezähnen durchführen. Als Ursache vermutet er eine Kombination von Faktoren.

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Im Video erzählt Maxim, was das Zahnleiden für ihn bedeutet.

Herr Ammann, Maxim (6) müssen vier neue Backenzähne gezogen werden, weil sie einfach wegbröckeln. Kommt das häufig vor?

Von MIH sind rund 30 Prozent meiner jungen Patienten betroffen: Ihre ersten bleibenden Zähne zeigen weisse, gelbe oder braune Wolkenstrukturen. Bei den meisten Patienten ist das harmlos. Bei schätzungsweise fünf Prozent sind die Folgen aber wie im Fall von Maxim katastrophal: Die neuen Zähne zerbröckeln direkt beim Durchbruch, sodass eine aufwendige Zahnsanierung nötig ist. Die noch jungen Kinder sind vom Therapieausmass oft völlig überfordert. Um die Kinder nicht zu traumatisieren, bleibt nur die Sanierung unter Vollnarkose. Das Problem hat sich weiter akzentuiert, was mich mit grosser Sorge erfüllt.

Noch immer ist die Ursache für die Kreidezähne nicht abschliessend geklärt. Was ist Ihre These?

Weil vor allem Zähne betroffen sind, die um die Geburt herum verkalken, lässt sich der Zeitraum der Störung ziemlich genau einschränken. Die Ursache ist nicht eindeutig – diskutiert wurden Weichmacher, Antibiotika oder auch Atemwegsprobleme bei der Geburt. Ich vermute, dass eine Kombination von Faktoren eine Rolle spielt. Wir sind so vielen chemischen Produkten ausgesetzt, von denen wir nicht wirklich wissen, wie sie sich auf den Organismus auswirken.

Was bedeutet es für ein Kind, wenn es Kreidezähne hat?

Es handelt sich um eine Schmelzbildungsstörung. Fehlt der schützende Schmelz teilweise, ist verspüren Kinder wie bei überempfindlichen Zahnhälsen schon bei kleinster Reizung einen heftigen stechenden Schmerz. Auf die Eltern kommen bei einer Sanierung hohe Kosten zu, weil die Krankenkassen die Krankheit nicht anerkennen.

Warum nicht?

Ich gehe davon aus, dass man Angst vor einem Dammbruch hat, dass Karies als MIH deklariert würde. Diese Gefahr ist meines Erachtens aber unbegründet, da sich die Diagnose MIH gut abgrenzen lässt. Der Katalog mit den Leistungen der Grundversicherung wurde vor 20 Jahren gemacht, als die Störung noch kein Thema war. Weil auch die IV nicht zuständig ist – sie kommt bei Schmelzbildungsstörungen erst zum Zug, wenn mindestens zwölf bleibende Zähne betroffen sind –, fallen die jungen Patienten zwischen Stuhl und Bank.

Sollte der Leistungskatalog der Grundversicherung Ihrer Meinung nach erweitert werden?

Ja, man müsste über die Bücher gehen. Es ist ein neues Phänomen, das die jungen Kinder, deren Eltern und die Therapeuten vor fast unlösbare Probleme stellt.

Es sollte nicht bagatellisiert werden. Die heutige Regelung ist unfair, weil in diesen Fällen kein Selbstverschulden vorliegt. Dass eine Narkose nicht übernommen wird, ist geradezu zynisch: Genau so gut könnte man verlangen, dass ein Beinbruch ohne Narkose gerichtet wird.

Dr. med. dent. Rolf Ammann führt eine Praxis für Kinderzahnmedizin in Zürich. Er ist Lehrbeauftragter an der Universität Zürich.

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