«Eltern ertragen Heimweh der Kinder nicht mehr»

Aktualisiert

Digitale Überbehütung«Eltern ertragen Heimweh der Kinder nicht mehr»

Lehrer sind zunehmend mit Heimweh-Kindern konfrontiert. An dieser Entwicklung sind auch die Eltern schuld, sagen Experten.

von
J. Käser
Heulattacken, Essensverweigerung, schlaflose Nächte: Die Sechstklässler einer Zürcher Primarlehrerin packte vor zwei Wochen im Klassenlager das Heimweh. «So etwas habe ich noch nie erlebt», sagt die Lehrerin der «SonntagsZeitung».
Den Grund für das zunehmende Heimweh verorten Experten in der digitalen Überbehütung, die die Ablösung der Kinder erschweren oder gar verunmöglichen würden.
In seinem Therapiealltag erlebt der Familientherapeut und Erziehungsberater Jürgen Feigel Ähnliches. Eltern würden zunehmend versuchen, per Handy mehr Kontrolle über ihre Kinder zu erlangen.
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Heulattacken, Essensverweigerung, schlaflose Nächte: Die Sechstklässler einer Zürcher Primarlehrerin packte vor zwei Wochen im Klassenlager das Heimweh. «So etwas habe ich noch nie erlebt», sagt die Lehrerin der «SonntagsZeitung».

Keystone/Maxime Schmid

Heulattacken, Essensverweigerung, schlaflose Nächte: Die Sechstklässler einer Zürcher Primarlehrerin packte vor zwei Wochen im Klassenlager das Heimweh. «Mehrere Schüler, fünf oder sechs, hatten Heimweh», sagt die Lehrerin der «SonntagsZeitung». «So etwas habe ich noch nie erlebt.»

Gleichzeitig würden die betroffenen Kinder immer älter. So wird in der «SonntagsZeitung» ein Berner Oberstufenlehrer zitiert, der feststellt, dass auch 15-Jährige vermehrt Mühe damit hätten, auswärts zu übernachten. Mittlerweile würde rund die Hälfte der Klasse auf die Teilnahme an einem fünftägigen Westschweiz-Aufenthalt verzichten, früher seien es nur 2 bis 3 Schüler pro Klasse gewesen. Den Grund für das zunehmende Heimweh orten Experten in der digitalen Überbehütung, die die Ablösung der Kinder erschweren oder gar verunmöglichen würde.

Heimweh heute einfacher auszudrücken

In seinem Therapiealltag erlebt der Familientherapeut und Erziehungsberater Jürgen Feigel Ähnliches. Eltern würden zunehmend versuchen, per Handy mehr Kontrolle über ihre Kinder zu erlangen, sagt er zu 20 Minuten. Es seien vorwiegend die Eltern, die ihre Kinder per Mobiltelefon kontaktieren würden: «Auf Dauer schwächt das die Eltern-Kind-Beziehung, da es ab einem zunehmendem Alter als nervig empfunden wird, wenn die Mutter oder der Vater andauernd fragt, wo man ist.»

Gemäss Feigel habe sich nicht die Heimweh-Häufigkeit verändert, sondern die Art, wie damit umgegangen werde: «Durch die Handy-Kommunikation kann das Kind das Heimweh gegenüber den Eltern heute einfacher ausdrücken, und die Eltern können unvermittelt eingreifen.» Während Eltern früher unter Umständen gar nichts mitgekriegt hätten, könne es heute vorkommen, dass sie ein Kind deshalb aus dem Schullager nach Hause holen würden.

Heimweh im Grundsatz etwas Gutes

Eltern wollten, dass es dem eigenen Kind gut gehe. Gegenwärtig hätten Eltern aber tendenziell mehr Mühe damit, das Leid des eigenen Kindes mit anzusehen. Einerseits könnten sie per Handy immer erfahren, wie es dem Kind gerade gehe. Andererseits würden die Eltern heute vermehrt dazu neigen, den Kindern Last oder Leid abzunehmen, statt dem Kind schwierige Situationen zuzutrauen. «Das könnte dem Selbstbewusstsein des Kindes allenfalls langfristig schaden. Es lernt nicht, Verantwortung zu übernehmen», sagt der Familientherapeut.

«Und man darf nicht vergessen: Im Grunde genommen ist Heimweh etwas Gutes. Das Kind sehnt sich dabei nach den Eltern, was darauf hindeutet, dass es eine gute Beziehung zu diesen pflegt», sagt Feigel.

«Übertriebener Schutz durch die Eltern»

Daniel Kachel, Präsident des Zürcher Sekundarlehrerverbands, hingegen erlebt keine Zunahme von Heimweh-Fällen. Was sich in den letzten Jahren durchaus verändert habe, sei das Verhalten einiger Eltern.«Vergisst ein Schüler etwa seine Hausaufgaben zu Hause, kommt es vor, dass ein Elternteil in die Schule eilt und sie dem Schüler bringt, damit dieser die Konsequenzen dafür nicht selber übernehmen muss.»

Die Eltern würden zunehmend die Fehler der Kinder ausbaden und diesen verunmöglichen, selber Verantwortung zu übernehmen, so Kachel. Dieser übertriebene Schutz könne sich vermutlich auch in Schullager-Situationen zeigen.

Handy muss zu Hause bleiben

Zur Rolle des Handys sagt Sekundarlehrer Kachel: «Mit den 13- bis 14-Jährigen organisieren wir jeweils ein Lager im Tessin, dabei ist das Mitbringen von Handys verboten. Im Vorfeld werden die Eltern brieflich über diesen Schritt informiert und auch den Schülern erklären wir die Gründe dafür.» Er stelle wiederholt fest, wie schnell sich die Schüler an die neue Situation ohne Handy gewöhnten, so Kachel. Bei den älteren Schülern im Abschlusslager, in dem Handys erlaubt sind, würden diese kein Problem darstellen.

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