Stosszeiten vermeiden«Pendler müssen sich weiter Gefahr aussetzen»
Der Bund rät, nicht mehr zu Stosszeiten zu pendeln. Gewerkschafter fordern nun Flexibilität, während Pro Bahn sagt, viele Pendler hätten sowieso keine Alternativen.
Sich regelmässig die Hände zu waschen oder aufs Händeschütteln zu verzichten, reicht nicht mehr: Am Freitag stellte Gesundheitsminister Alain Berset neue Empfehlungen im Kampf gegen das Coronavirus vor. Diese zielen besonders auf die Pendler ab. Darunter:
Reduzieren Sie Ihren Freizeitverkehr. Vermeiden Sie, soweit möglich, das Reisen zu Stosszeiten.
Arbeitgeber sollen die Arbeitszeiten ihrer Angestellten so flexibel wie möglich gestalten, damit Stosszeiten vermieden werden können.
Halten Sie auch in den öffentlichen Verkehrsmitteln möglichst Abstand zu anderen Personen.
Der Verband öffentlicher Verkehr unterstützt die Massnahme: «Die Hauptverkehrszeit ist gemäss offizieller Definition an Werktagen morgens zwischen 6 und 9 Uhr sowie abends zwischen 16 und 19 Uhr.» Daniel Koch, Leiter der Abteilung Übertragbare Krankheiten beim BAG, betonte: «Wichtig ist wirklich, die Stosszeiten zu meiden, da sollen so gut wie möglich auch die Arbeitgeber mithelfen.»
«Es müssen alle am selben Strick ziehen»
Corrado Pardini, Leiter Sektion Industrie der Gewerkschaft Unia, fordert nun: «Jetzt müssen alle am gleichen Strick ziehen.» Überall dort, wo eine Flexibilisierung möglich sei, müssten Arbeitgeber ihren Mitarbeitenden einen individuellen Arbeitsbeginn und Feierabend gewähren. «Pendler sollen so zur Arbeit fahren, dass sie die Stosszeiten vermeiden können, wie das der Bundesrat verlangt.»
Nach seinem Fauxpas scherzte Bundesrat Alain Berset über das Vermeiden des Händedrucks als Vorsichtsmassnahme gegen den Coronavirus. Am Mittwoch schloss er eine Pressekonferenz mit einem Handschlag.
(Video: SDA)
Alain Berset an der Pressekonferenz am Freitag.
Die Arbeitgeber müssten ihre Partikularinteressen zurückstellen, fordert Pardini. Im Vordergrund stehe die Gesundheit der Bevölkerung und die Solidarität. «Im innerbetrieblichen Dialog müssen entsprechende Lösungen gefunden werden. In einer solchen Krise muss man Hand in Hand gehen.»
«Selbstverständlich, dass Arbeitgeber das umsetzen»
Auch für Adrian Wüthrich, Präsident des Gewerkschaftsdachverbands Travail Suisse, ist selbstverständlich, dass die Arbeitgeber diese Empfehlungen umsetzen. «Ich gehe davon aus, dass es auch im Interesse der Arbeitgeber ist, die Empfehlungen des Bundesrats anzuwenden.» Würden die Arbeitgeber nicht von sich aus Arbeitszeiten ermöglichen, die sich mit dem Pendeln ausserhalb der Stosszeiten vereinbaren liessen, würden entsprechende Forderungen von Mitarbeitern nach individuellem Arbeitsbeginn bestimmt auf offene Ohren stossen.
«Sollten sich Arbeitgeber sträuben, empfehle ich den Mitarbeitern, sich bei einer Gewerkschaft Hilfe zu holen», sagt Wüthrich. Schliesslich gehe es um die Gesundheit ihrer Mitarbeiter und der gesamten Bevölkerung. «Arbeitgeber haben ihren Mitarbeitern gegenüber eine gesetzliche Fürsorgepflicht. Zwingen sie diese, das Risiko einer Ansteckung im ÖV in Kauf zu nehmen, obwohl die Arbeitszeiten flexibel definiert werden könnten, verletzen sie diese Pflicht.»
Arbeitgeber wollen sich grosszügig zeigen
Beim Schweizerischen Arbeitgeberverband heisst es auf Anfrage, es handle sich um eine Empfehlung, keine Vorschrift. «Die Arbeitgeber sollen wann immer möglich flexible Arbeitsmodelle zulassen», sagt Sprecher Fredy Greuter. Für viele Tätigkeiten – etwa den Kassier im Detailhandel, die Lehrerin in der Schule, den Schichtarbeiter in der Produktion – seien die Möglichkeiten aber wegen naturgemäss fixer Arbeits- und Öffnungszeiten limitiert.
Die Arbeitgeber seien bereit, ihren Anteil zur Eindämmung des Coronavirus beizutragen und die Empfehlungen verantwortungsbewusst und grosszügig anzuwenden. «Das setzt aber umgekehrt von den Arbeitnehmern voraus, dass sie diese Empfehlungen nicht missbrauchen», sagt Greuter. Auf die Frage, ob das Pendeln für Angestellte zu Stosszeiten ein Gesundheitsrisiko sei, sagt Greuter, im Zentrum dieser Massnahme stünden verletzliche Personen. «Für die übrigen Personen ist wichtig, sich an die vom BAG ausgesprochenen Hygiene-Empfehlungen zu halten, um Ansteckungen zu verhindern.»
«Grossteil der Pendler hat keine Alternative»
Ob die Empfehlung Bersets für Pendler praktisch umsetzbar ist, beschäftigt derweil den Verband Pro Bahn. «Mit seiner heutigen Entscheidung überträgt der Bundesrat die Verantwortung einzig und allein den Pendlern beziehungsweise den Zugsreisenden», sagt Präsidentin Karin Blättler. Ein Grossteil der Pendler werde keine oder kaum Alternativen in Bezug auf die Reisezeit haben.
«Eine solche Empfehlung setzt auch den Einbezug der Arbeitgeber voraus. Ohne zwingende Vorgaben an die Arbeitgeber werden sich die Pendler weiterhin in den öffentlichen Verkehr zwängen und sich so eher der Ansteckungsgefahr aussetzen müssen», so Blättler. Umso stossender sei die Entscheidung des Bundesrats, weil Veranstaltungen über 1000 Personen schweizweit verboten oder mit weniger Personen bewilligungspflichtig seien. «Hier kann ich mich grossmehrheitlich entziehen, nicht aber dem Arbeitsweg.»