«Wir stehen bereits auf Todeslisten»

Aktualisiert

Kunstaktion in Istanbul«Wir stehen bereits auf Todeslisten»

Künstler Philipp Ruch steht hinter der Verteilung der Anti-Erdogan-Flugblätter. Er spricht über seine Motivation – und kündigt eine neue Aktion gegen Roger Köppel an.

lüs
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lüs
Flugblätter gegen den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan wurden am 30. Juni 2017 aus einem Hotelzimmer beim Gezi-Park in Istanbul geworfen.
Die Flugblätter stammten aus einem Drucker, der so am Fenster positioniert war, dass sie auf die Strasse hinunterfielen, als sie gedruckt wurden.
Auf einem Video aus dem Hotelzimmer ist zu sehen, wie zwei Personen das Zimmer betreten und den Drucker ausschalten.
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Flugblätter gegen den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan wurden am 30. Juni 2017 aus einem Hotelzimmer beim Gezi-Park in Istanbul geworfen.

Zentrum für Politische Schönheit

Herr Ruch, Sie haben via Fernsteuerung in Istanbul Flugblätter gegen Erdogan gestreut. Was haben Sie gegen den türkischen Präsidenten?

Er führt seit drei Jahren einen militärischen Krieg gegen die Kurden im Südosten der Türkei. Er hat sich zum Alleinherrscher per Referendum machen lassen. Er unterdrückt die kulturelle und intellektuelle Elite des Landes. Und er will die Todesstrafe wieder einführen. Kein Mensch mit einem Funken Vernunft wird Alleinherrscher. Die Entdeckung der Gewaltenteilung war vielleicht der entscheidendste zivilisatorische Fortschritte in der Menschheitsgeschichte.

Stört es Sie nicht, dass Sie nun wohl nie wieder in die Türkei werden einreisen können?

Uns stört viel mehr, dass die Menschen im Land nicht mehr frei leben können und unterdrückt werden. Das Leitprinzip der Arbeit des Zentrums für Politische Schönheit ist die Uneigennützigkeit. Unser Wohlstand bringt gewisse Verpflichtungen mit sich. Wir stehen ja bereits auf Todeslisten von Rechtsextremisten (Franco A.). Jetzt kommen halt noch ein paar Irre dazu. Wenn wir inhaftiert oder getötet werden sollten, ist das ein guter Gradmesser für das Ende der Freiheit der Kunst. In so einer Welt kann ich mir ohnehin nicht vorstellen zu leben.

Auf dem Flugblatt steht, es sei mit Geldern des Freistaats Bayern und der Bundesregierung finanziert. Trifft dies tatsächlich zu, und hatten Sie vom Freistaat Bayern sowie der deutschen Bundesregierung schon ein Feedback zur Aktion von Istanbul?

Das Projekt «Scholl 2017» läuft seit einer Woche an den Münchner Kammerspielen. Es dürfte schwer werden für die bayerische Staatsregierung, den Diktatoren, zu denen der Ministerpräsident Bayerns doch so gern reiste, einerseits zu erklären, dass die Münchner Kammerspiele – das wichtigste Theater im gesamten Bundesland – nichts mit dem Freistaat zu tun haben, und auf der anderen Seite, dass man das Projekt mitsamt Staatswappen seit über einer Woche stillschweigend duldet. In dem Sinne haben wir eine grossartige Rückmeldung der bayerischen Staatsregierung erhalten: Man kann von begeisterter Anerkennung sprechen. Statt die Polizei vorzuschicken oder Websites zuzusperren, hat man uns machen lassen. Und jetzt sind wir in ihrem Auftrag in den Diktaturen unterwegs. Eigentlich sollte man jetzt darüber nachdenken, die Gelder für die Geheimdienste an uns umzuleiten. Schliesslich sind wir eine Art zivilgesellschaftlicher humanistischer Geheimdienst.

Planen Sie im Rahmen des «Scholl 2017»-Wettbewerbs weitere Aktivitäten in der Türkei?

Bitte haben Sie Verständnis, dass wir uns dazu derzeit nicht äussern werden.

Sie bezeichnen die Aktion in Istanbul als die bisher gefährlichste Aktion des ZPS. Wird sie die gefährlichste bleiben oder sind weitere, ähnlich gefährliche oder noch gefährlichere Aktionen in Planung?

Schauen Sie sich die Weltlage an. Es wird für uns alle mit Sicherheit brandgefährlich. Der anerkannte Historiker Timothy Snyder spricht davon, dass der einzige Plan Putins darin bestehe, Europa zu zerstören. Putin hat als erste Amtshandlung Völkermord in Tschetschenien begangen. Und das, nur um Wahlen zu gewinnen.

Werden Sie künftig auch in anderen Ländern tätig, beispielsweise Nordkorea?

Die Aktion war ein überwältigender Erfolg: Wir haben über 70 Kandidatinnen und Kandidaten, die in Diktaturen Flugblätter verteilen wollen. Das Zentrum für Politische Schönheit wird von 732 Fördermitgliedern getragen. Um unsere Pläne weiter in die Tat umzusetzen, brauchen wir etwa 2500 Fördermitglieder. Dann werden wir ganz grossflächig angreifen. Die Diktatur ist ein abstraktes und überzeitliches Phänomen. Und man kann es offenbar nicht besiegen, wie man nach dem Zweiten Weltkrieg glaubte, sondern nur zurückdrängen.

War die Anwendung der Installation mit dem ferngesteuerten Drucker eine einmalige Sache oder soll sie erneut zum Einsatz kommen?

Der Prototyp heisst «Churchill 1» und sollte technisch das Erbe der Weissen Rose ins Jahr 2017 heben. Das ist gelungen. Jetzt geht es um die Serienreife.

Sie haben durch Ihre Aktionen gegen Roger Köppel in der Schweiz Aufsehen erregt. Planen Sie in nächster Zeit auch mal wieder etwas in der Schweiz?

Ja. Und sie werden lachen: Es wird wieder eine Köppel-Aktion. In der Schweiz haben wir beschlossen, nur noch Köppel-Aktionen zu machen. Bis auch der Letzte versteht, dass es sich dabei um den von Blocher gesponserten Ziehsohn handelt, der diese völlig irrationale und für die Schweiz schädliche Politik auch noch in die 2020er-Jahre retten soll.

So lief die Aktion in Istanbul ab:

Über dem Gezi Park in Istanbul warf ein Drucker Flugblätter ab. (Video: Tamedia/Zentrum für Politische Schönheit)

(Video: Tamedia/Zentrum für Politische Schönheit)

Philipp Ruch (36) ist Aktionskünstler und Philosoph. Der Sohn eines Schweizers und einer Deutschen ist teilweise in der damaligen DDR, teilweise in der Schweiz aufgewachsen. Er ist Gründer des Zentrums für Politische Schönheit in Berlin, wo Ruch auch lebt.

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