Wie lebt es sich neben dem ältesten AKW der Welt?

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Reportage aus DöttingenWie lebt es sich neben dem ältesten AKW der Welt?

Zu Besuch im Herzen der Atomschweiz: Wo die Notfallschutz-Karte rot eingefärbt ist, hat kaum jemand Mühe mit der Kernenergie.

von
Jacqueline Büchi

So denken die Döttinger über den Atomausstieg (Video: Philipp Stirnemann)

Der Kirchturm in eigenwilliger Holzoptik ragt trotzig in die Luft. Hier, ich bin das Herz von Döttingen!, scheint er Ankömmlingen zuzurufen. Einen eigentlichen Kern hat die Aargauer Gemeinde nicht: hier ein paar Geschäfte, da etwas Industrie. Im Rücken ein Rebberg im Herbstkleid, zu Füssen – auf einer künstlichen Insel auf der Aare – das älteste AKW der Welt.

Über das Schicksal des Letzteren entscheidet Ende Monat das Schweizer Stimmvolk. Nimmt es die Atomausstiegsinitiative der Grünen an, müssen Beznau I und II, dann 48 respektive 46 Jahre alt, 2017 vom Netz. Das Uralt-Werk habe mit «gravierenden Sicherheitsproblemen» zu kämpfen, das Risiko eines nuklearen Unfalls sei «massiv erhöht», warnen die Initianten.

95 Prozent gegen die Grünen-Initiative

Die Döttinger sehen das freilich anders. Ein «Gstürm», ein «Theater» sei das, was diese Grünen – «entschuldigen Sie, aber es ist ja wahr» – hier veranstalteten, wettern zwei ältere Herren. «Wissen Sie: Mindestens 90 Prozent der Leute hier sind für den Atomstrom.»

Das sei «fast etwas untertrieben», meint Gemeindeammann Peter Hirt, seit 15 Jahren im Amt. Die Initiative werde in seiner Gemeinde mit 95 Prozent Nein-Stimmen verworfen, prognostiziert er. Plausibel scheint es: Als die Schweizer 2003 schon einmal über den Atomausstieg abstimmten, sagten gerade einmal 8,9 Prozent der Döttinger Ja zur Initiative «Strom ohne Atom». Landesweit war immerhin jeder dritte Bürger dafür.

«Bis dann tun mir die Zähne nicht mehr weh»

«Wir leben mit den Kraftwerken, seitdem es sie gibt», so Hirt. Der Austausch mit der Betreiberfirma Axpo sei gut, «wir sind hundertprozentig überzeugt, dass die beiden Werke sicher sind». Ähnlich tönt es auch auf der Strasse: Dass in den Stahlwänden des Reaktordruckbehälters von Beznau I vor einem Jahr rund tausend Löcher entdeckt wurden, beunruhigt kaum jemanden – auch wenn die Zone um Döttingen auf der Notfallschutz-Karte der Atomaufsichtsbehörde Ensi tiefrot eingefärbt ist.

Heinz Kipfer (83), in jeder Hand einen Walking-Stock, hat selber lange Jahre «in der Beznau» gearbeitet. Als Strahlenschutzkontrolleur, wie er nicht ohne Stolz erzählt. «Wir hatten noch nie Probleme – logisch stimme ich Nein.» Die Jodtabletten habe er zu Hause griffbereit. Dass er sie eines Tages brauchen wird, glaubt er nicht. «Und wenn auch, dann wissen wir wenigstens, wofür wir sie haben.» Klar, eines Tages werde Beznau sowieso abgestellt. «Aber bis dann tun mir die Zähne nicht mehr weh.»

Steuereinnahmen schrumpfen

Die Axpo ist nicht nur die wichtigste Arbeitgeberin der Region. Sie ist für Döttingen auch eine gute Steuerzahlerin – oder war es zumindest. Dass der Atomstrom nicht mehr so rentabel ist wie auch schon, merkt Gemeindeammann Hirt in der Kasse: Zahlte der Betrieb 2008 noch 12 Millionen Franken an Steuern, waren es letztes Jahr nicht einmal mehr zwei Millionen.

Die Sonne scheint bleich durch die Wolkendecke, es sind nur wenige Einwohner unterwegs. Man wolle ja gar nicht um jeden Preis an der Atomenergie festhalten, betonen die meisten von ihnen. Aber dann müssten die Atom-Gegner erst einmal eine Alternative liefern, die auch «verhebt». Eines kommt für sie nicht infrage: Ausländischen Strom importieren, wenn man doch «guten, eigenen» produziere.

«Wir sitzen auf einem Pulverfass»

Es gibt aber auch sie: die anderen zehn Prozent, die Atom-Gegner in Döttingen. Er mache sich zuweilen schon Gedanken, schliesslich habe er zwei Kinder, sagt ein junger Mann. «Man hofft einfach nur, dass nichts passiert.» Nachdenklich zeigt sich auch eine Frau mit markanter Brille. «Ein Ereignis wie Fukushima rüttelt einen brutal wach, und man merkt, dass wir hier eigentlich auf einem Pulverfass sitzen.»

Den Vergleich zu Fukushima hört Gemeindeammann Hirt nicht gern. «Die beiden Werke sind nicht vergleichbar.» Nach der Katastrophe in Japan sei er zunächst nicht einmal auf die Idee gekommen, dass das eine Auswirkungen auf das andere haben könnte. Nun jedoch ist klar: Die Zeit, zu der in Döttingen kein Atomstrom mehr produziert wird, wird kommen.

Verliert die Gemeinde mit Beznau ihr Wahrzeichen? «Vielleicht das ideologische», so Hirt. «Unser echtes Wahrzeichen ist aber der Kirchturm», lacht er, «der sollte unter Heimatschutz gestellt werden». In diesem Punkt scheinen die Döttinger jedoch weniger geeint. «Seelenabschussrampe» nennt der Volksmund den viereckigen Turm auch.

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