Jede zweite Frau wurde im ÖV schon mal belästigt

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Sexuelle GewaltJede zweite Frau wurde im ÖV schon mal belästigt

46 Prozent der Frauen erlebten im Zug oder Tram sexuelle Belästigung. Eine Expertin rät Frauen, im Zug lautstark auf Grapscher aufmerksam zu machen.

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Insbesondere junge Frauen gaben an, im öffentlichen Verkehr von sexueller Belästigung betroffen zu sein. Im Vergleich zu den älteren Kategorien (beide 41 Prozent) stehen die 16- bis 39-Jährigen mit über 50 Prozent an der Spitze.
Nach der Strasse (56 Prozent) folgt ...
... der öffentliche Verkehr als zweitgrösster Hotspot für unangemessene Verhaltensweisen gegenüber dem weiblichen Geschlecht.
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Insbesondere junge Frauen gaben an, im öffentlichen Verkehr von sexueller Belästigung betroffen zu sein. Im Vergleich zu den älteren Kategorien (beide 41 Prozent) stehen die 16- bis 39-Jährigen mit über 50 Prozent an der Spitze.

Keystone/Yannick Bailly

Der grösste Teil der sexuellen Belästigung an Frauen spielt sich im öffentlichen Raum ab. Nach der Strasse (56 Prozent) folgt der öffentliche Verkehr als zweitgrösster Hotspot für unangemessene Verhaltensweisen gegenüber dem weiblichen Geschlecht. 46 Prozent – oder jede zweite Frau – wurden laut einer neuen Studie des GFS Bern dort schon sexuell belästigt.

Insbesondere junge Frauen gaben an, betroffen zu sein. Im Vergleich zu den älteren Kategorien (beide 41 Prozent) stehen die 16- bis 39-Jährigen mit über 50 Prozent an der Spitze.

«Berührungen und anzügliche Bemerkungen»

Vertreterinnen von Opferberatungsstellen bestätigen das Phänomen. «Im ÖV sind Frauen oft unangenehmen Blicken, Bemerkungen und zufälligen Berührungen von Männern ausgesetzt», sagt Corina Elmer, Geschäftsführerin der Opferberatungsstelle Frauenberatung sexuelle Gewalt. Sie beobachte oft im Zug oder Tram entsprechende Szenen.

Elmer: «Zum Beispiel setzen sich einige Männer zielstrebig zu vor allem jungen Frauen. Andere suchen die Berührung mit dem Knie der Pendlerin oder machen anzügliche Bemerkungen.» Es gebe auch Männer, die vermeintlich zufällig die Brust oder den Po einer Frau berührten.

«Belästigt durch Menspreading»

Insbesondere im Nachtleben kommt es laut Elmer zu Grenzüberschreitungen. «Junge Frauen fühlen sich oft belästigt, wenn betrunkene Männer sie offensiv anmachen und ihre Grenzen nicht respektieren.» Viele Pendlerinnen würden aber auch belästigt, wenn sich ein Passagier breitbeinig hinsetze. «Das sogenannte Menspreading wird als unangenehm wahrgenommen, weil der Mann dabei sehr viel Raum einnimmt und es so oft zu ungewolltem Körperkontakt zwischen ihm und einer Passagierin kommt.»

Auch Lucie Waser, Gleichstellungsbeauftragte bei der Gewerkschaft des Verkehrspersonals (SEV), weiss: «Dass es in öffentlichen Verkehrsmitteln immer wieder zu sexuellen Belästigungen an Frauen kommt, ist den verschiedenen Organisationen bereits seit einer Weile bekannt. Bisher beruht aber alles nur auf Hören-Sagen und Beobachtungen. Es gibt keine wissenschaftlichen Daten, wir bewegen uns in einem Graubereich.» Die aktuelle Studie der GFS Bern sei nicht differenziert genug. Es sei dringend nötig, dass eine detaillierte Kundenbefragung stattfinde.

Doppelt begleitete Züge seien wichtig

«Ich habe jedoch die Vermutung, dass solche Vorfälle meist in Zügen passieren, die nicht begleitet werden», erklärt Waser. Deshalb sei es dem SEV wichtig, dass die Züge immer doppelt begleitet würden. «Dadurch können sich die Frauen sicherer fühlen.»

Bereits heute schreckt die Videoüberwachung laut Waser viele Täter ab. «Es würde jedoch helfen, eine Kampagne in der Schweiz zu starten. Dadurch werden andere Fahrgäste sensibilisiert und schalten sich eher ein, wenn etwas sein sollte», sagt Waser. «Ausserdem ist der Einsatz der Bahnpolizei, Securitrans und Securitas vor allem in der Nacht immer wichtiger geworden. Das wird sicher zunehmend, beziehungsweise flächendeckender gebraucht werden gerade auch in den Bahnhöfen und Wartebereichen.»

Betroffene sollten klare Ansage machen

Hat ein Passagier seine Grenzen überschritten, rät Corina Elmer Frauen zu einer klaren Ansage. Am besten sei, den betreffenden Mann zu bitten, damit aufzuhören. «Ist jemand unbelehrbar, darf man ruhig auch laut werden und auf sich oder den Grapscher aufmerksam machen.» So könne man etwa durch den Wagen rufen: «Das ist ein Grapscher!» Zeige eine Frau Mühe, sich gegen die Belästigung zu wehren, sollten die Zeugen der Szene Zivilcourage zeigen und den Mann auffordern, die Frau in Ruhe zu lassen.

In ein Schema lassen sich die Opfer sexueller Belästigung nicht pressen. «Sexuelle Belästigung und sexuelle Gewalt kann alle Frauen aus allen sozialen Schichten, Altersklassen und Wohnorten betreffen», hält Agota Lavoyer von der Opferberatungsstelle Lantana fest. Im Fall von Belästigungen sei es falsch, zu fragen, warum sich die Frau nicht gewehrt habe. «Die Frage sollte sein: ‹Warum hat es der Täter gemacht?›»

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