Ferien auf Balkonien«Wer zu Hause Ferien macht, weckt Misstrauen»
Die meisten Schweizer verreisen im Sommer ins Ausland. Wer daheim bleibt, kann negativ auffallen.
Wie gestalten Passanten ihre Sommerferien? 20 Minuten hat sie zu ihren Ferienplänen befragt. (Video: B. Zanni)
Bald schwärmt die Mehrheit der Schweizer aus. Nur 20 Prozent bleiben in den Sommerferien in der Schweiz. Damit belegt die Schweiz im internationalen Vergleich den zweitletzten Platz, wie eine Analyse des Marktforschungsunternehmens Ipsos zeigt. Nur die Belgier (16 Prozent) zieht es noch mehr ins Ausland. An der Spitze der Heimaturlauber stehen dagegen die Franzosen (57 Prozent), die Spanier (56 Prozent) und die Italiener (52 Prozent).
Schweizer, die ihre Ferien in den eigenen vier Wänden verbringen, stossen auf viel Unverständnis. «Nur schon wenn ich erzähle, mein verlängertes Wochenende zu Hause verbracht zu haben, reagieren meine Freunde erstaunt», sagt eine 30-Jährige. Ihre Freunde dagegen nutzten freie Tage sofort für einen Trip nach Rom, Berlin oder Barcelona.
Erstaunte Reaktionen
Ein 28-Jähriger berichtet: «Antworte ich auf die Frage, ob ich verreiste, mit ‹nein, ich hänge eine Woche zu Hause rum›, endet das Gespräch über die Ferien in der Regel gleich.» Andere Menschen hielten dies wohl für zu wenig interessant. Ein anderer junger Urlauber, der lieber zu Hause bleibt, trifft manchmal auf erstaunte Reaktionen. «Dazu gehören Kommentare wie: ‹Hast du Angst vor anderen Kulturen?›», sagt er.
Auch Familien spüren den Druck, Ferien möglichst auswärts zu verbringen. «Weil wir dieses Jahr im Sommer zu Hause bleiben, ernten wir schon dann und wann verwunderte oder mitleidige Blicke», so eine Mutter. Offenbar gebe es schon unter den Kindern einen Konkurrenzkampf um die tollsten Ferien. «‹Aber ich will auch mit dem Flugzeug verreisen›, jammerte meine sechsjährige Tochter.» Auch Passantin Ladine Heusser (17) sagt: «Es ist im Moment in, in den Ferien zu verreisen.» Und ihre Kollegin Lucienne Haller (17) glaubt, manche Menschen verreisten nur, um sich in den sozialen Medien damit in Szene setzen zu können.
«Stehen unter Verdacht, Faulenzer zu sein»
Fachpersonen bestätigen, dass Balkonien-Urlauber einen schweren Stand haben. «Menschen, die zu Hause Ferien machen, wecken bei anderen ein gewisses Misstrauen», sagt Jakub Samochowiec, Senior Researcher für gesellschaftliche und technologische Entwicklungen am Gottlieb Duttweiler Institut. In unserer Leistungsgesellschaft, in der viele mit dem Stress geradezu kokettierten, stehe eine solche Person unter Verdacht, ein Faulenzer und Ignorant zu sein.
Mit den Dingen, die sie in der Freizeit unternehmen, definieren die Menschen laut Samochowiec ihren sozialen Status. «Gerade bei den Ferien ist der Leistungsdruck besonders hoch.» Um zu Hause zu bleiben, brauche es oft eine Rechtfertigung. Der Manager, der ständig in der Welt herumjette, habe eine solche. «Das trifft auch auf diejenigen zu, die einen Garten anlegen, ein Buch schreiben oder aus Umweltgründen zu Hause bleiben.»
Heimaturlauber schätzen die Nähe
Tourismusorganisationen dagegen sehen die Heimaturlauber als Opfer von Vorurteilen. «Die Leute, die ihre Ferien zu Hause verbringen, sind nicht die absoluten Couch-Potatoes», sagt Markus Berger, Mediensprecher von Schweiz Tourismus. Auch im Sommer seien die Schweizer die wichtigsten Gäste im eigenen Land. Die Zuhausegebliebenen schätzten es, dass sie in der Schweiz alles vor der Haustüre hätten. «Egal, wo man wohnt, man ist schnell an einem See, auf einem Berg oder im Zoo.» Deswegen ziehe es auch viele internationale Gäste für Ferien in die Schweiz.
Dass die Mehrheit der Schweizer gerne im Ausland Ferien verbringt, liegt laut Berger nicht an ihrer Heimat. «Durch unser mehrsprachiges Land sind die Schweizer gegenüber anderen Kulturen besonders offen.» Auch verfügten sie über ein grösseres Budget als etwa die Franzosen, Spanier und die Italiener, um sich Ferien im Ausland zu leisten.