Toleranz oder FeigheitIst politische Korrektheit Seuche oder Segen?
Der Schriftsteller Thomas Hürlimann bezeichnet Toleranz als «Kennzeichen der Schwäche» – und löst eine heftige Debatte aus.
Thomas Hürlimann ist einer der bekanntesten Schweizer Schriftsteller und Träger vieler Preise. Am 1. August wollte er eine Rede halten, war aber verhindert. Die «Schweiz am Wochenende» druckte sie nun ab.
Hürlimann kritisiert die Political Correctness und die Toleranz. Heute dürfe nicht mehr alles gesagt werden, so der Unterton. Damit löst er eine heftige Debatte aus. Ist Hürlimanns Rede ein «Schmarren», wie es der Psychoanalytiker Peter Schneider ausdrückt? Oder hat er zu Recht eine «Diktatur der Political Correctness» angeprangert, wie der Aktivist und Schriftsteller Kacem El Ghazzali sagt?
«Toleranz ist ein Wort für Feigheit»
Hürlimann schreibt, der Begriff Toleranz «dominiert jede Predigt, jeden Leitartikel, jedes politische Statement». Dabei sei Toleranz «ein anderes Wort für Feigheit». Er kritisiert auch die «Sprachpolizei», die immer mehr Vorschriften und Sprachhürden vorgebe. Das Thema ist aktuell: Märchenklassiker werden aus den Schulbüchern gestrichen, der «Mohrenkopf» sorgt für heftige Diskussionen.
Political Correctness ist für viele ein grundlegendes Prinzip, das vor Diskriminierung und Ungerechtigkeiten schützt. Hürlimann sieht sie hingegen als Maulkorb: «Früher waren in Worten wie Miteidgenossen, Studenten oder Arbeiter beide Geschlechter eingeschlossen.» Heute höre man Sätze wie «Reiche mir bitte die Salzstreuerin». Die politische Korrektheit sei auch hierzulande zu einer «grassierenden Seuche» geworden: «Unser Sprechen soll in Formeln gepresst werden.» Der Sprachkörper werde «immer wieder vergewaltigt».
Gibt es eine «Sprachpolizei»?
Schriftstellerkollegen widersprechen. Der Autor Lukas Bärfuss sieht Political Correctness als wichtigen Schritt in der Entwicklung der Sprache: «Es ist eine wichtige Emanzipationsbewegung aus den USA.» Sorgen machen müsse man sich eher um die sozialen Medien. Hier fehlten oft Anstand und Respekt. Er sagt: «Ich teile Hürlimanns Meinung zwar nicht – aber er darf sagen, was er will.»
Ähnlich äussert sich Peter Schneider, Privatdozent für Psychoanalyse und Kolumnist. Er sieht die publizierte Rede als Widerspruch in sich: «Die Behauptung, dass man wegen der politischen Korrektheit nicht sagen dürfe, was man öffentlich herausposaune, ist ein grassierender, unfreiwillig komischer Selbstwiderspruch.» Hürlimanns Attacke gegen die politische Korrektheit sei weder erfrischend noch kritisch, sondern «trist, altbacken, verstaubt und voller Ressentiments». Schneider spricht von einer «Altherren-Rebellion».
Auch für die Schriftstellerin Daria Wild ist Political Correctness zum «Kampfbegriff der Konservativen» geworden: Es sei absurd, Toleranz zu kritisieren und sie gleichzeitig für sich zu beanspruchen. Sie sagt: «Tolerant sein bedeutet, Menschen und Ideen nicht zu unterdrücken, obwohl sie einem gegen den Strich gehen. Das ist genau das, was Hürlimann für sich selbst einfordert.» Sie sieht einen gefährlichen Trend: «Nie war Diskriminierung salonfähiger als jetzt. Wenn es tatsächlich zum guten Ton gehört, sich darüber aufzuregen, andere nicht diskriminieren zu dürfen, ist unsere Gesellschaft zu wenig restriktiv.» Hürlimann wolle provozieren, langweile aber nur: «Er hat noch nicht einmal begriffen, dass der Satz mit der Salzstreuerin ein blöder Witz ist.»
Bedeutet Toleranz heute Verzicht?
Hürlimann erhält auch Rückendeckung, etwa vom Schriftsteller und Aktivisten Kacem El Ghazzali. Die Gesellschaft sei nicht so tolerant, wie sie sich gebe. Toleranz werde heute als Verzicht verstanden: «Sie dient als eine Art Zensur der kritischen Stimmen unter einem Deckmantel. Man wird dazu gezwungen, auf seine intellektuelle Freiheit zu verzichten, damit man die Gefühle anderer nicht verletzt.»
So entstehe das Problem, dass niemand mehr das Kind beim Namen nenne – aus Angst. Bei kritischer Äusserung zu einem heiklen Thema wie Einwanderung oder Rassismus erfahre man oft einen Shitstorm auf sehr persönlicher Ebene. Das habe er selber erfahren. Das sei nicht tolerant. Sobald ein Künstler wegen einer kritischen Äusserung nicht mehr zu Anlässen eingeladen werde, «sprechen wir von einer Diktatur der Political Correctness».
Jeder habe das Recht und die Freiheit, zu kritisieren. Für El Ghazzali ergibt sich aus dem Recht eine Pflicht: «Zu einer offenen und liberalen Gesellschaft gehöre die ständige Kritikausübung.»
«Der Zeitgeist wurde zu sensibel»
Ähnlich sieht dies Tamara Wernli: «Als Kolumnistin und Videobloggerin stehe ich permanent vor der Frage: Darf ich das so schreiben? Fühlt sich eine Gruppe angegriffen? Ich frage mich, ob ich ein kontroverses Thema überhaupt aufgreifen soll.» Egal, wie differenziert und sachlich man es angehe, wer es falsch verstehen wolle, verstehe es falsch. «Ich habe etliche Positionen, die mit den Empfindungen der Hypersensiblen unverträglich sind.» Das Problem sei, dass schon nur abweichende Ansichten als «provokativ» oder «hassschürend» deklariert würden. «Es ist nicht eine Mehrheit, die so agiert, aber eine schrille, laute Minderheit.»
Es gebe Grenzen, sagt El Ghazzali. «Man darf Menschen nicht als intolerant bezeichnen, weil sie anderer Meinung sind. Und man darf nie zu Gewalt aufrufen.» Jeder Mensch habe aber die Freiheit, mit Aufklärung Kritik auszuüben – «egal, wie heikel das Thema ist».
Zur Person
Thomas Hürlimann (67) ist Schriftsteller und Sohn des ehemaligen Bundesrats Hans Hürlimann (CVP). Er wurde in Zug geboren und besuchte das Gymnasium an der Stiftsschule Einsiedeln. Er studierte Philosophie an der Universität Zürich und, seit 1974, an der Freien Universität Berlin. Nach dem Abbruch des Studiums arbeitete er von 1978 bis 1980 als Regieassistent und Produktionsdramaturg am Berliner Schillertheater. Seit 1980 ist er freier Schriftsteller. Für sein Werk erhielt Thomas Hürlimann verschiedene Preise und Auszeichnungen. Zu seinen wichtigsten Werken gehören zum Beispiel «Vierzig Rosen» (2006),«Fräulein Stark» (2001) oder «Der grosse Kater» (1998). Sein neuer Roman heisst «Heimkehr» - der erste nach 12 Jahren. Seit 2002 lebt Hürlimann wieder vor allem in Berlin und in Walchwil.