Jeder 5. junge Schweizer Muslim ist für die Scharia

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Gegen westliche WerteJeder 5. junge Schweizer Muslim ist für die Scharia

Viele muslimische Jugendliche in der Schweiz lehnen westliche Werte ab und wünschen sich die Scharia. Experten fordern Massnahmen gegen den Hass auf den Westen.

Qendresa Llugiqi
von
Qendresa Llugiqi

43 Prozent der muslimischen Jugendlichen sind abwertend gegenüber westlichen Gesellschaften eingestellt. Knapp 21 Prozent sind sogar der Meinung, dass sich die Schweiz der Scharia, das heisst den islamischen Gesetzen, unterwerfen sollte, nach denen etwa Ehebruch oder Homosexualität drakonisch bestraft werden. Die Zahlen stammen aus einer Studie der ZHAW, bei der über 8000 Jugendliche im Alter von 17 bis 18 Jahren in zehn Kantonen mitgemacht haben. Dabei wurden auch rund 670 Muslime zu ihrer Haltung befragt:

• 21,7 Prozent sind der Meinung, dass die islamischen Gesetze der Scharia viel besser als die Schweizer Gesetze sind.

• 21,4 Prozent der muslimischen Jugendlichen sind der Meinung, dass die Schweiz einen Führer braucht, der nach islamischem Gesetz regiert.

• 33,7 Prozent vertreten die Ansicht, dass nur der Islam in der Lage ist, die Probleme unserer Zeit zu lösen.

• Gemäss 26,1 Prozent haben Frauen in Ländern wie der Schweiz viel zu viele Freiheiten.

• 29,3 Prozent finden die Lebensweise der Menschen in der westlichen Welt (unter anderem das Tragen teurer Kleidung oder offene Sexualität) abstossend.

• 26,1 Prozent denken, dass der Islam die einzig wahre Religion ist und alle anderen weniger wert sind.

• 42,6 Prozent sind der Meinung, dass es in den westlichen Ländern keine Moral mehr gibt.

• 60,9 Prozent der muslimischen Jugendlichen sind der Meinung, dass es nur deshalb Gewalt und Krieg in den islamischen Ländern gibt, weil die westliche Welt diese Länder ausbeutet und unterdrückt.

• 63,4 Prozent denken, dass Muslime durch den Westen unterdrückt werden.

• Nur 5,9 Prozent der Jugendlichen erklären aber, dass sie es in Ordnung finden, wenn Menschen verprügelt werden, weil sie nicht dem Islam angehören.

«Manche lehnen westliche Werte ab»

Der Zürcher Anwalt Emrah Erken, der auf der Facebook-Seite «Before Sharia Spoiled Everything» zeigt, wie es in vielen muslimisch geprägten Ländern vor der Rückkehr der gesellschaftspolitischen Normen der Scharia aussah, sagt: «In der Schweiz gibt es ganz unterschiedliche muslimische Menschen und Gesellschaftsstrukturen. Manche von ihnen lehnen die westlichen Werte ab und betrachten diese gegenüber den islamischen Werten als minderwertig.»

Zu den muslimischen Jugendlichen, die sich die Scharia in der Schweiz wünschen, hat er eine klare Meinung: «Jugendliche, die solche Ansichten vertreten, sind ganz klar Extremisten. Da allen bekannt ist, dass in Europa die Muslime in einer kleinen Minderheit sind, könnte eine flächendeckende Einführung der Scharia nur über Gewalt erfolgen. Jugendliche, die solche Forderungen stellen, nehmen dies wohl mindestens billigend in Kauf. Die Folgen wären ausserdem gewollt.»

«Widerspruch zu den westlichen, freiheitlichen Werten»

Wer das volle Programm der Scharia bei sich anwenden wolle, werde zwangsweise die westlichen Werte ablehnen: «Wenn wir uns die Regeln anschauen, stehen sie teilweise und meines Erachtens auch in sensiblen Bereichen in einem diametralen Widerspruch zu den Werten, die in unseren freiheitlichen westlichen Gesellschaften gelten.» Beispielsweise sei das der Fall bei der Gleichberechtigung der Geschlechter (männliche Erben erhalten doppelt so viel), der Gleichheit der Menschen (Muslime sind mehr wert als Nichtgläubige), Religionsfreiheit (gebe es im Islam nicht) oder bei der Sexualmoral des Islam (Kleidervorschriften).

Die grösste Chance, jugendliche Muslime für ein westliches Weltbild zu begeistern, sieht Rechtsanwalt Erken bei den Schulen: «Wir sollten so früh wie möglich damit beginnen, unseren Kindern die westlichen Werte, die Verfassung, den Stellenwert der Gleichberechtigung der Geschlechter und die Bedeutung der Demokratie näherzubringen.» Er störe sich daran, dass manche Politiker genau das Gegenteil anstreben würden: «Die Anerkennung des Islam geht zu weit und bewirkt das Gegenteil. Islamische Verbände, die oft konservative Ansichten haben und antiwestliche Werte vertreten, erhalten dadurch mehr Einfluss. Das wirkt sich unter anderem in der Erziehung muslimischer Kinder aus.»

Saudische Infiltration als Ursache

Das Resultat der Studie überrascht Farhad Afshar, Präsident der Koordination Islamischer Organisationen Schweiz, nicht. «Seit 20 Jahren steckt Saudiarabien Milliarden in die Verbreitung des Wahhabismus.» Die Infiltration habe zur Folge, dass ausländische Imame radikale Lehren verbreiten würden. «So gelangen sie auch in die Köpfe der Schüler.»

Im Gegensatz zu Erken plädiert er für eine öffentlich-rechtliche Anerkennung des Islam: Dass der Islam in der Schweiz nicht anerkannt sei, führe zu einer Abhängigkeit vom Ausland. «Die Muslim-Verbände haben keine Mittel und sind überfordert.» Afshar fordert die Schulen zum Handeln auf: «Die Fremdenfeindlichkeit nimmt in Europa zu. Es braucht viel mehr Unterricht, in welchem über die verschiedenen Religionen aufgeklärt wird.»

Studie als «Momentaufnahme»

Für Lehrerpräsident Beat Zemp stellt die Studie nur eine Momentaufnahme dar, die man relativieren müsse: «Viele Jugendliche in diesem Alter stellen grundsätzlich die allgemeingültigen Werte in der Gesellschaft infrage. Das gehört zum Entwicklungsprozess. Die meisten Jugendlichen, die in den 80er-Jahren bei den Opernkrawallen die etablierte Kunst und den Kapitalismus bekämpft haben, sind heute gut bezahlte Fachkräfte und gönnen sich ab und zu einen Kulturevent.»

Zu denken gebe ihm aber, dass doch ein erheblicher Teil der islamischen Jugendlichen die Scharia über das Schweizer Rechtssystem setzen wolle: «Das könnte auch eine Reaktion auf die populistische Propaganda gegen den Islam als Religion sein. Denn dann reagieren betroffene Jugendliche auch mit einer radikaleren Einstellung gegenüber westlichen Werten», sagt Zemp. «Daher müssen wir an den Schulen die politische Bildung stärken und die Vorteile unseres Rechtssystems betonen, ohne den Islam zu verteufeln.» Dies sei bisher zu kurz gekommen, weil es bisher kein Unterrichtsgefäss dafür gegeben habe. «Mit dem Lehrplan 21 wird sich das jedoch ändern. In Fächern wie ‹Politische Bildung› und ‹Bildung für eine nachhaltige Entwicklung› werden genau solche Themen behandelt.»

Kein gefestigtes Weltbild

Laut Dirk Baier, Mitautor der Studie und Professor an der ZHAW, handelt es sich meist nicht um ein gefestigtes Weltbild, wenn junge Muslime sich zu diesen Punkten zustimmend äussern: «Vielmehr steckt sicher einerseits dahinter, dass sie Ideen und Überzeugungen äussern, die von den Eltern oder anderen Erwachsenen im Umfeld stammen. Andererseits kommt darin eine gewisse Distanz zur Demokratie zum Ausdruck, die darin ihre Ursache haben dürfte, dass die Jugendlichen auch negative Erfahrungen – beispielsweise Diskriminierungserlebnisse – mit der Schweiz machen.» Mit einer islamischen Gesellschaft würden die muslimischen Jugendlichen die Hoffnung verbinden, dass solch negativen Erfahrungen weniger gemacht werden.

«Einige Schweizer werden sich wohl nun fragen, wie es sein kann, dass man sich solch eine Gesellschaftsform wünscht», vermutet Baier. «Dies könnte dazu führen, dass sich die Distanz gegenüber den Muslimen erhöht, was auf Seiten der Muslime wiederum Anlass sein könnte, weiter an diesen Orientierungen festzuhalten.» Viel wichtiger wäre es, den Dialog zu führen, um die Hintergründe dafür in Erfahrung zu bringen, warum sich ein Teil der Muslime in solche Orientierungen flüchtet. «Abbauen lässt sich eine solche Haltung nur durch Kontakt und positive Erfahrungen. Dies bedeutet, dass es darum gehen muss, frühzeitig muslimische Kinder und Jugendliche mit Jugendlichen anderer Religionen oder Herkunft zusammenzubringen.»

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