Schläger darf bleiben — weil Völkerrecht vorgeht

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AusschaffungsinitiativeSchläger darf bleiben — weil Völkerrecht vorgeht

Ein Deutscher soll trotz eines Angriffs nicht ausgewiesen werden. Laut dem Zürcher Obergericht gehen die Bilateralen der Umsetzung der Ausschaffungsinitiative vor.

von
Jennifer Furer
Der mehrfach vorbestrafte Deutsche C.S*. aus dem Kanton Thurgau attackierte zusammen mit einer Gruppe einen Mann. Eine Tat, die gemäss schweizerischem Recht eine Ausschaffung nach sich zieht.
Das Bezirksgericht hielt sich an das Umsetzungsgesetz zur SVP-Ausschaffungsinitiative, das seit Oktober 2016 in Kraft ist: Angriff ist im Katalog der Straftaten aufgeführt, die automatisch einen Landesverweis nach sich ziehen. Eine Ausnahme sieht das Strafgesetzbuch einzig für Härtefälle vor – ein solcher lag nach Ansicht des Gerichts aber nicht vor.
Das Zürcher Obergericht hatte das Urteil der Vorinstanz umgestossen: Der Deutsche durfte in der Schweiz bleiben. Nun hat das Bundesgericht jedoch entschieden, dass der Schläger für fünf Jahre das Land verlassen muss.
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Der mehrfach vorbestrafte Deutsche C.S*. aus dem Kanton Thurgau attackierte zusammen mit einer Gruppe einen Mann. Eine Tat, die gemäss schweizerischem Recht eine Ausschaffung nach sich zieht.

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Die Tat spielte sich im Februar dieses Jahres in einem Mehrfamilienhaus in Winterthur ab: Der mehrfach vorbestrafte Deutsche C.S.* aus dem Kanton Thurgau attackierte zusammen mit einer Gruppe einen Mann. Der Angreifer packte das Opfer, drückte es an eine Scheibe und verpasste ihm mehrere Ohrfeigen. Das Bezirksgericht Winterthur hat den Deutschen im Mai wegen Angriffs zu einer bedingten Freiheitsstrafe von acht Monaten verurteilt. Ausserdem sprach es einen Landesverweis für fünf Jahre aus.

Das Bezirksgericht hielt sich an die vom Parlament beschlossene Umsetzung der SVP-Ausschaffungsinitiative: Angriff ist im Katalog der Straftaten aufgeführt, die automatisch einen Landesverweis nach sich ziehen. Eine Ausnahme sieht das Strafgesetzbuch einzig für Härtefälle vor – ein solcher lag nach Ansicht des Gerichts aber nicht vor.

Obergericht hebt Landesverweis auf

Der 27-Jährige und sein Anwalt zogen das Urteil weiter ans Obergericht des Kantons Zürich. Sie akzeptierten zwar die Freiheitsstrafe für den Angriff, nicht aber den Landesverweis. Aufgrund des Freizügigkeitsabkommens (FZA) mit der EU sei die pauschale, gesetzliche Landesverweisung nicht zulässig, so die Begründung. Der Landesverweis verstosse gegen das Völkerrecht und sei deshalb aufzuheben.

Nun hat das von einem SP-Richter präsidierte Obergericht den Entscheid der Vorinstanz umgestossen: Gemäss dem Urteil vom 22. August darf der Deutsche in der Schweiz bleiben. Die bundesgerichtliche Rechtsprechung sehe bei ähnlich gelagerten Fällen vor, dass die völkerrechtliche Verpflichtungen des FZA vorgehen, schreibt das Gericht. Das FZA enthalte unter anderem ein Recht auf Verbleib in Mitgliedstaaten — ausser, eine Person sei eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit, Ordnung und Gesundheit.

Laut Gericht keine Gefahr für die Gesellschaft

Das Obergericht sieht im Fall des Deutschen keine schwere Gefährdung der öffentlichen Sicherheit. Auch wenn der Mann «offensichtlich keinen Respekt vor der körperlichen Integrität anderer Personen zeigt» könne «gegenwärtig keine hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung beim Mann festgestellt werden». Auch die Tatsache, dass der Deutsche eine bedingte Freiheitsstrafe erhalten hat, spreche gegen eine hinreichende Rückfallgefahr. Eine schwere Gefährdung der Gesellschaft liege nicht vor.

Der 27-Jährige sei zwar vorbestraft, die Taten seien aber als Vorfälle zu beurteilen, die «bei nicht beziehungsweise bei durchschnittlich gefährlichen Jugendlichen» durchaus vorkommen können, erklärte sein Anwalt. Der 27-Jährige ist wegen einfacher Körperverletzung, Verstosses gegen das Betäubungsmittelgesetz sowie wegen Vergehen gegen das Waffengesetz vorbestraft. Im März 2010 schlug er einem Mann mit der Faust ins Gesicht und 2015 trug er einen Schlagring und Marihuana auf sich.

Ein Präzedenzfall

Der Entscheid des Obergerichts, wonach das Freizügigkeitsabkommen über den neuen Ausschaffungsbestimmungen stehe, sei ein Präzedenzurteil, sagt Migrationsrechtexperte Alberto Achermann. «Mir ist kein anderer Fall bekannt, in dem ein oberes Gericht diese neue Rechtsfrage zu entscheiden hatte», sagt er. Dass das Bezirksgericht einen Landesverweis ausgesprochen habe, habe womöglich damit zu tun, dass es sich nicht «die Finger habe verbrennen wollen».

Das Bezirksgericht Winterthur hatte sich ebenfalls mit dem Freizügigkeitsabkommen auseinandergesetzt. Anders als das Obergericht kam es aber zum Schluss, dass eine Störung der öffentlichen Ordnung durch den bereits vorbestraften Deutschen nicht ausgeschlossen werden könne.

Beschwerde ans Bundesgericht

Der Anwalt des Deutschen sagt, dass sich sein Mandant sehr über das Urteil des Obergerichts gefreut habe: «Er hat hier Familie, Freunde und eine Freundin und will wieder in die Schweiz einreisen können.» Derzeit weilt sein Mandant in Hamburg. S. ist laut Urteil in Ostdeutschland geboren, zog als Jugendlicher mit seiner Familie in die Schweiz. Ab 2010 lebte er abwechslungsweise in Deutschland und der Schweiz. Anfangs 2017 kehrte er in den Kanton Thurgau zurück.

Ob der Deutsche wieder in die Schweiz einreisen darf, wird das Bundesgericht entscheiden müssen. Corinne Bouvard, Sprecherin der Oberstaatsanwaltschaft, bestätigt 20 Minuten, dass das Urteil weitergezogen wird. «Die Staatsanwaltschaft will einen höchstrichterlichen Grundsatzentscheid», so die Sprecherin. Nur so könne die Frage geklärt werden, ob das Völker- oder Landesrecht im Fall eines Konflikts Vorrang hat.

Der Anwalt sieht dem Berufungsverfahren gelassen entgegen: «Das Bundesgericht müsste von seiner bisherigen Rechtsprechung abweichen, was meiner Meinung nach nicht passieren wird.»

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