«Das Coronavirus sorgt für Entschleunigung»

Publiziert

Weniger Stress«Das Coronavirus sorgt für Entschleunigung»

Die Corona-Krise hat nicht nur negative Effekte. Radikale Einschränkungen im öffentlichen Leben können auch eine Chance sein.

B. Zanni
von
B. Zanni
Aus Angst vor dem Coronavirus rollen manche Menschen Einkaufswagen voller Notvorräte durch die Läden, ...
... decken sich literweise mit Desinfektionsmittel
... und hamstern Atemschutzmasken. Die Angst vor einer Ansteckung mit dem Virus oder einer Schliessung der Grossverteiler macht ihren Alltag zum Stress pur.
1 / 8

Aus Angst vor dem Coronavirus rollen manche Menschen Einkaufswagen voller Notvorräte durch die Läden, ...

Leser-Reporter

Auf den Ausbruch des Coronavirus in der Schweiz reagieren manche Menschen panisch. Sie rollen Einkaufswagen voller Notvorräte durch die Läden, decken sich literweise mit Desinfektionsmittel ein und hamstern Atemschutzmasken. Die Angst vor einer Ansteckung mit dem Virus oder einer Schliessung der Grossverteiler macht ihren Alltag zum Stress pur. Viele Menschen sehen im grassierenden Virus aber auch eine Chance zur Entschleunigung.

Jemand schreibt auf Twitter, dass die Liste seiner «Begeisterungsargumente für das Coronavirus immer länger» werde: «Von Flugstornierungen über Ausfall von Helene-Fischer-Veranstaltungen, bis hin zum Yoga. Fantastisch. Mensch möchte fast dankbar sein.» Ein weiterer User findet: «Diese Absagen aufgrund der Ausbreitung des Coronavirus sind vermutlich nicht für jeden ein Problem. Ich glaube, diese Situation kann unter Umständen zur temporären Entschleunigung unserer Gesellschaft führen.»

«Gehen jetzt öfter in den Wald»

Auch 20-Minuten-Leser sehen in den Folgen des Coronavirus Vorteile. «Netflix and Chill ist mein Motto fürs Wochenende», schreibt Kim (21). Auch Katja (30) nutzt die Situation, um zu entschleunigen. «Wir gehen öfter in den Wald und geniessen die Natur. Wir finden es nicht schlecht, dass alle mal einen Gang zurückschalten. Tut uns allen gut!», schreibt sie. Sandra (39) kommt mit einem wegen des Coronavirus abgesagten Festivals gut klar. «Jetzt machen wir uns halt wieder mal ein richtig romantisches Wochenende zu zweit.»

Fachpersonen beurteilen den Effekt des Coronavirus nicht nur als negativ für die Gesellschaft. «Das Coronavirus und seine Ausbreitung beherrscht unseren Alltag im Moment, was neben der gefährlichen Seite auch heilsame Folgen hat», sagt Sebastian Haas, Psychiater und stellvertretender Ärztlicher Direktor der Privatklinik Hohenegg in Meilen ZH. Seiner Meinung nach sollte die Gesellschaft aus den Folgen der Coronavirus-Epidemie Lehren ziehen.

«Krise lehrt: Es geht auch mit weniger»

Viele Berufstätige stehen laut Haas unter einem ständigen Druck und rasseln deswegen am Ende in ein Burnout. «Gerade passieren aber Dinge in der Wirtschaftswelt, die man sich vor einigen Wochen überhaupt nicht hätte vorstellen können.» Firmen-Events, Kongresse, Sitzungen und Geschäftsreisen würden abgesagt oder nur online durchgeführt und Arbeiten im Homeoffice erledigt. «Die letzten Jahre ging man von einer Wachstumslogik aus, dass alles immer schneller, grösser und dynamischer werden muss. Durch die Corona-Krise aber merkt man, dass es auch mit weniger funktionieren kann.» Das Coronavirus als externer, unkontrollierbarer Faktor zwinge nun Arbeitgeber zum Umdenken.

Auch Nathalie Buschor, Geschäftsführerin von Buschor Coaching & Consulting, betrachtet das grassierende Virus als Chance gegen den Stress. «Viele Leute stellen sich in Familie, Beziehung, Job und Freizeit extrem hohe Ansprüche», sagt sie. Wegen des Virus falle gerade auch in der Freizeit ein grosser Teil des Stresses weg.

Verlorene Zeit falle weg

«Man muss nicht mehr die perfekten Ferien organisieren, man muss nicht mehr auf allen Events super gestylt aufkreuzen», sagt Buschor. Das öffentliche Leben auf Sparflamme gebe den Menschen die Möglichkeit zum Durchatmen. «Die Leute sind auch mal froh, dass sie einfach zuhause sein können.» Durch die Massnahmen in der Firma könnten sie sich zudem wieder auf die Arbeit selber konzentrieren, was das Arbeitsleben wieder sinnhafter machen könne. «Die Zeit, die man mit Pendeln, unnötigen Konferenzen, dem Schmieden von Allianzen und sonstigen Leerläufen verliert, fällt weg.»

Die Fachpersonen machen aber auch auf allfällige negative Konsequenzen der virusbedingten Entschleunigung aufmerksam. «Es ist möglich, dass der Druck in gewissen Firmen zusätzlich steigt, wenn die Corona-Epidemie überwunden sein wird», sagt Sebastian Haas. Firmenverantwortliche könnten nach einer Phase der reduzierten Produktivität in den heruntergefahrenen Betrieben auf die Idee kommen, ihren Mitarbeitern danach etwa mittels Wochenendarbeit noch mehr aufzubürden, um ihre Leistungsziele doch noch zu erreichen.

Deine Meinung zählt