Wie viel darf ein Kinderleben kosten?

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Spritze für 4 Mio. FrankenWie viel darf ein Kinderleben kosten?

Vier Millionen für eine Spritze: Novartis lanciert die teuerste Behandlung überhaupt, um sterbenskranke Kinder zu heilen. Darf ein Medikament so viel kosten?

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D. Pomper / P. Michel
In der Schweiz leiden rund Hundert Personen an der seltenen Krankheit Spinale Muskelatrophie. Die Krankheit ist in drei Schweregrade unterteilt. Für Typ 1 hat die Novartis-Firma Avexis nun eine Behandlung entwickelt und einen Zulassungsantrag eingereicht.
Eine einzige Infusion soll für die Heilung ausreichen. Kostenpunkt: 4 Millionen Franken. Das wäre die bisher teuerste Behandlung.
Gemäss Schätzungen von Novartis führt eine Therapie mit AVXS-101 im Schnitt für die Kinder zu 13 gewonnenen Lebensjahren mit guter Gesundheit. Andere Medikamente seien in einem 10-Jahres-Vergleich bei ähnlichem Nutzen teurer.
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In der Schweiz leiden rund Hundert Personen an der seltenen Krankheit Spinale Muskelatrophie. Die Krankheit ist in drei Schweregrade unterteilt. Für Typ 1 hat die Novartis-Firma Avexis nun eine Behandlung entwickelt und einen Zulassungsantrag eingereicht.

obs/Biogen GmbH

Sie können weder sitzen noch den Kopf halten noch sich drehen. Sie können kaum atmen, schlucken, husten. Fast alle Kinder, die an Spinaler Muskelatrophie (SMA) des Typs I leiden, sterben vor ihrem zweiten Geburtstag. Es handelt sich um eine der schlimmsten Erbkrankheiten überhaupt. In der Schweiz kommen jährlich acht bis zwölf Babys damit zur Welt.

Nun aber hat der Schweizer Pharmakonzern Novartis laut «SonntagsZeitung» eine Gentherapie namens AVXS-101 vorgestellt und einen Zulassungsantrag eingereicht. Eine einzige Infusion soll zur Heilung ausreichen. Kostenpunkt: 4 Millionen Franken. Das wäre die bisher teuerste Behandlung. Gemäss Schätzungen von Novartis führt eine Therapie mit AVXS-101 im Schnitt für die Kinder zu 13 gewonnenen Lebensjahren mit guter Gesundheit. Andere Medikamente seien in einem 10-Jahres-Vergleich bei ähnlichem Nutzen teurer.

Doch wer bezahlt die 4 Millionen-Spritze? CEO-Vasant Narasimhan versprach: «Wir werden einen Weg finden, um diese Medizin allgemein zugänglich zu machen.»

«Die Kassen sollen die Kosten übernehmen»

Die Betroffenen hoffen darauf, dass die Behandlung auch in der Schweiz zugelassen wird und die Kassen die Kosten vollständig übernehmen: «Für eine Familie ist jedes zusätzliche Lebensjahr mit dem Kind unendlich viel wert», sagt Nicole Gusset von der Patientenorganisation für Spinale Muskelatrophie. Die Mutter einer achtjährigen Tochter mit SMA Typ II befürchtet aber einen «Riesenkampf» zwischen Behörden und der Pharmaindustrie auf dem Rücken der Patienten, wenn der Preis tatsächlich so hoch ausfällt: «Es bleibt zu hoffen, dass am Schluss die SMA-Betroffenen Zugang zur Therapie haben – sonst bringt sie nämlich niemandem etwas.»

Auch Michel Romanens, Arzt und Projektleiter beim Verein Ethik und Medizin findet: «Die Kosten sind für die Krankenversicherungen und die Prämienzahler tragbar» (siehe Interview). Das Bundesgericht kam 2011 zum Schluss, dass ein zusätzliches Lebensjahr maximal 100'000 Franken kosten darf. Bei der Novartis-Spritze wären es über 300'000 Franken pro Lebensjahr.

«Kosten drohen zu explodieren»

Finanzpolitiker Thomas Aeschi hält fest, dass die Gesundheitskosten aufgrund der wachsenden Bevölkerung und neuer teurer Medikamente stetig steigen. «Der Einsatz neuer Medikamenten muss genau abgewogen und nur in speziellen Fällen zugelassen werden. Sonst drohen die Kosten zu explodieren. Und das zahlt am Schluss der Prämienzahler.»

Wie viel sind wir bereit für ein Medikament zu bezahlen? Diese Fragen würden wir in Zukunft mit dem Fortschritt in der personalisierten Medizin noch mehr diskutieren, sagt Gesundheitsökonom Jérome Cosandey. Als Alternative könnte die Zahlung auch vom Behandlungserfolg abhängig gemacht werden. «Stirbt ein behandelter Patient früher als vom Hersteller vorausgesagt, muss dieser einen Teil der Kosten übernehmen.»

Es gehe aber auch um die Ressourcenverteilung: «Investieren wir so viel Geld für eine einzige Behandlung, fehlt es woanders», sagt Cosandey. Man müsse sich einerseits die unangenehme Frage stellen: «Könnte man für dieses Geld nicht mehr Leben retten?» Auf der anderen Seite gebe es den ethischen Grundsatz, dass jedes Leben gerettet werden müsse. Das sei ein Dilemma, das die Politik bisher vermieden habe.

«Fokus auf Kosten greift zu kurz»

Darf eine Behandlung vier Millionen Franken kosten?

Wie das Bundesgericht willkürlich zu definieren, ein zusätzliches Lebensjahr dürfe maximal 100'000 Franken kosten, greift zu kurz: Wir können doch nicht Eltern von Kindern mit selten Krankheiten sagen, es gibt zwar eine Lösung, aber die ist uns als Gesellschaft zu teuer. Eine Behandlung darf wie in diesem Fall 4 Millionen kosten. Wir müssen akzeptieren, dass es Medikamente für sehr seltene Krankheiten gibt, deren Entwicklung sehr teuer ist.

Das würde die Prämien in die Höhe treiben.

Die Kosten sind für die Krankenversicherungen und die Prämienzahler tragbar, denn es geht nur um eine Handvoll Fälle pro Jahr, und die Versicherer sind für solche Fälle selbst rückversichert. Die Prämien würden deswegen nicht übermässig steigen. Zusätzlich wäre es aber nötig, um die einzelnen Kassen zu entlasten, dass der Bund eine eigene Grossrisikoversicherung für die Grundversicherung schafft, die bei extrem teuren Medikamenten einspringen kann.

Sie stören sich daran, dass sich in solchen Diskussionen die Kostenfrage dominiert. Was müsste man weiter berücksichtigen?

Statt nur auf die Kosten zu fokussieren, muss es vielmehr darum gehen, eine Behandlung ganzheitlich anzuschauen: Wie viel Wert hat ein zusätzliches Lebensjahr mit dem Kind für die Familie? Welche Pflegekosten entfallen aufgrund der einmaligen Spritze? Neben diesen Abwägungen im Einzelfall braucht es auch Transparenz von der Pharma: Novartis muss beispielsweise genau darlegen, wie es dazu kommt, dass ihre Behandlung 4 Millionen Franken kostet und wie hoch ihre Marge ist.»

Michel Romanens ist Arzt und Projektleiter beim Verein Ethik und Medizin.

Die Krankheit

Bei der spinalen Muskelatrophie (SMA) wird aufgrund eines Gen-Defekts das SMN-Protein nicht mehr ausreichend produziert. Dadurch erkranken die Nervenzellen, die normalerweise Impulse an die Muskeln weiterleiten. «Laufen, Krabbeln, Sitzen, Kopfkontrolle und Schlucken werden für Betroffene, falls sie es je erlernt haben, mit Fortschreiten der SMA zunehmend schwieriger», schreibt die Patientenorganisation für spinale Muskelatrophie. Eines von 10'000 Neugeborenen ist von der Erbkrankheit betroffen.

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