«Die jungen Männer finden Gewalt spannend»

Aktualisiert

Krawalle in Zürich«Die jungen Männer finden Gewalt spannend»

Nach den Ausschreitungen in Zürich erklärt ein Experte, wie sich junge Männer zu einem Mob zusammenschliessen und was man dagegen tun kann.

Stefan Ehrbar
von
Stefan Ehrbar
Am Samstagabend, 18. August, kam es an der Zürcher Seepromenade zu einem Grosseinsatz von Polizei und Sanität. Dabei wurden die Retter «massiv angegriffen», wie die Stadtpolizei mitteilte.
Ausgerückt war die Polizei wegen einer Messerstecherei. Beim Eintreffen wurden die Rettungskräfte sofort von Unbekannten, mutmasslichen FCZ-Fans, mit Steinen und Flaschen angegriffen.
«Um zu den Verletzten zu gelangen, musste die Polizei Reizstoff und Gummischrot einsetzen», heisst es in der Mitteilung. Damit die Polizei und die Sanität zum Verletzten vordringen konnte, wurde ein Wasserwerfer aufgeboten. Die Polizei setzte Gummischrot und Reizstoff gegen den «Mob» ein.
1 / 11

Am Samstagabend, 18. August, kam es an der Zürcher Seepromenade zu einem Grosseinsatz von Polizei und Sanität. Dabei wurden die Retter «massiv angegriffen», wie die Stadtpolizei mitteilte.

Leser-Reporter

Bei den Ausschreitungen in Zürich, bei denen Polizisten angegriffen wurden, solidarisierten sich Hunderte mit den Gewalttätern. Wie es so weit kommen konnte und wie sich solche Situationen verhindern lassen, erklärt Kriminologie-Professor Manuel Eisner.

Herr Eisner, waren Sie überrascht von den Ausschreitungen in Zürich?

In dieser Grössenordnung und Intensität ist das immer wieder überraschend. Grundsätzlich passierte etwas Ähnliches wie bei politisch motivierten oder anderen Ausschreitungen: Es entstand eine Dynamik, für die vor allem junge Männer sehr anfällig sind.

Was passiert in einem solchen Fall?

Die Männer beginnen, sich in einer Gruppe zu solidarisieren. Sie denken nicht mehr selber und bauen innert weniger Minuten ein Feindbild auf. Durch den Einsatz von Gummischrot und Tränengas könnte das noch erleichtert worden sein. Die Gruppenmitglieder nehmen plötzlich jemanden als Feind wahr und denken nicht mehr darüber nach, was richtig und was falsch ist. Sie werden von einer Gruppenpsychologie und gewalttätigem Verhalten getrieben.

Was braucht es, damit eine Gruppe zu einem solchen Mob wird?

Es ist sicher kein Zufall, dass das am Samstagabend geschah. Viele stehen dann unter dem Einfluss von Alkohol oder Drogen. Für viele haben solche Ausschreitungen leider sogar etwas Vergnügliches. Im Englischen spricht man von «recreational violence». Es ist eine Art opportunistische Gewalt, die als spannend, aufregend und interessant empfunden wird – und die andere ansteckt. Die Folgen können schwerwiegend sein.

Kann es sein, dass plötzlich Hunderte nicht mehr selbstständig denken?

Man gibt das rationale Denken tatsächlich auf und überlegt nicht mehr, was richtig und falsch ist. Im Ansatz sind das ähnliche Prozesse wie bei rassistischen Massenausschreitungen. Es braucht nur einen kleinen Funken, und junge Männer schliessen sich in Gruppen einer Gewaltbewegung an. In diesen werden Aggressionen ausgedrückt. Man schaut, was andere machen, und ahmt es nach. Solche Exzesse sind nicht langfristig. Fragt man die Beteiligten einen oder zwei Tage später, was das sollte, wissen viele keine Antwort.

Trotzdem bleibt es rätselhaft, wie eine solche Gruppe entstehen kann.

Machen wir ein Gedankenexperiment: Stellen Sie sich vor, Sie sitzen in einem Bus mit fünfzig anderen Leuten. Alle wollen heim. Der Bus wird angehalten und von anderen Leuten bedroht. Innerhalb von Minuten werden sich die Passagiere als Gruppe zusammenschliessen und eine Wut auf die anderen entwickeln. Etwas Ähnliches ist in Zürich vermutlich passiert.

Die Menschen wurden aber nicht bedroht. Die Polizei und die Sanität rückten wegen einer Messerstecherei aus.

Wie die mutmasslichen FCZ-Fans ursprünglich kommuniziert haben, weiss ich nicht. Feindbilder können aufgebaut werden und müssen nichts mit der Realität zu tun haben. Das heisst noch nicht, dass die Beteiligten keine Werte haben oder nicht wissen, was richtig oder falsch ist.

Wieso gibt es in der wohlhabenden Schweiz Hunderte junge Männer, die zu Gewalt gegen Polizisten bereits sind?

Wir haben vor zwei Jahren eine Studie gemacht, für die wir junge Leute fragten, ob politische Gewalt gerechtfertigt sei. Auch haben wir gefragt, ob es richtig sei, manchmal das Recht in die eigenen Hände zu nehmen. Ein recht grosser Teil der Jugendlichen in der Schweiz hat zugestimmt und fühlt sich dazu berechtigt, Gewalt auszuüben. Leider verhindert Wohlstand allein keine Gewaltbefürwortung. Hingegen fanden wir, dass eine Vorgeschichte von Delinquenz und Bandenmitgliedschaft, sozialem Ausschluss und mangelnder elterlicher Anteilnahme eine erhöhte Gewaltbereitschaft begünstigen.

Andere schauen aber nur zu.

Wer sich von seiner Persönlichkeit her solchen Dynamiken entzieht, geht in so einer Situation weg oder wird zum Gaffer. Aber es gibt eine grosse Zahl von jungen Menschen, die die Situation aufgreifen und sich der Gewalt anschliessen. Das kann innert weniger Minuten oder Stunden um sich greifen. In England haben wir das 2011 gesehen: Innert Stunden haben Ausschreitungen sogar von London auf andere Städte übergegriffen.

Sie sprechen immer nur von jungen Männern. Gibt es nicht auch gewalttätige Frauen?

Nach allem, was wir aus der Forschung zu Gruppengewalt wissen, sind es tatsächlich fast immer junge Männer. Vielleicht gibt es auch ein paar Frauen oder ältere Männer darunter, aber das sind die wenigsten.

Wieso sind junge Männer so anfällig?

Die Gewalt- und Kriminalitätsbereitschaft ist zwischen 16 und 20 Jahren am höchsten. Die Gewalt bei Ausschreitungen folgt diesem Muster. Da spielt die Sozialisation – etwa bestimmte Männlichkeitsbilder und Machogehabe oder das Gefühl, anderen Eindruck machen zu müssen – eine Rolle, aber auch biologische Faktoren. Junge Männer haben ein besonders hohes Bedürfnis nach Stimulation durch Dinge, die sie als gefährlich, risikoreich und aggressiv wahrnehmen. Das scheint etwas zu sein, was man in allen Kulturen der Menschheit der letzten fünf- bis zehntausend Jahre findet.

Das tönt fatalistisch. Kann man überhaupt etwas dagegen tun?

Natürlich. Kameras vor Stadien senken nachweislich die Gewalt im Umfeld, auch die nun diskutierten Bodycams können bei der Polizeiarbeit helfen. Bei der Problematik der gewaltbereiten Fussballfans frage ich mich: Weiss man, wer die Täter sind und wo sie sich aufhalten? Welche wirksamen Massnahmen haben andere Länder getroffen? Stärkere Kontrolle ist sicher eine Möglichkeit, um das Problem in den Griff zu kriegen. Ein Problem in solchen Situationen wie am Samstag ist ja, dass viele das Gefühl kriegen, straffrei Gewalttaten begehen zu können, weil sie so viele sind. Polizeipräsenz ist gerade an Wochenendnächten nötig.

Manuel Eisner

Der Schweizer Manuel Eisner ist Professor für Kriminologie an der Cambridge-Universität und leitet das Violence Research Centre. Er studierte in Zürich und beschäftigt sich seit Jahren mit Kriminalität.

Deine Meinung zählt