Inklusions-Initiative lanciert«Wir können selbst entscheiden, mit wem wir am ‹Zmorgetisch› sitzen»
Am Donnerstag lanciert ein breites Komitee die Inklusions-Initiative in Bern. Ihr Ziel: Menschen mit Behinderungen sollen ein selbstbestimmtes Leben führen können.
Suad Dahir Ahmed (29) ist psychisch beeinträchtigt und hat eine Lernschwäche. Sie setzt sich für die Inklusions-Initiative ein.
20min/Janina SchenkerDarum gehts
In Bern wird am Donnerstag die Inklusions-Initiative lanciert.
Sie fordert ein selbstbestimmtes Leben für Menschen mit Behinderung.
Konkret sollen Menschen mit Behinderung frei wählen dürfen, wo und wie sie leben wollen, und mehr Assistenz erhalten.
1,7 Millionen Menschen in der Schweiz haben laut Bundesamt für Statistik eine Behinderung. Doch das Alltagsleben für die Betroffenen gestaltet sich in der Schweiz immer noch schwierig. Hier soll eine neue Volksinitiative Abhilfe schaffen. Die Initianten fordern mit einem neuen Artikel in der Bundesverfassung die gleichen Rechte für Menschen mit Behinderungen.
Die Initiative stellt konkret drei Forderungen.
Freie Wahl des Wohnorts und der Wohnform
Alle Menschen sollen das Recht haben, ihre Wohnform und ihren Wohnort zu wählen. Viele Menschen mit Behinderungen würden heute dazu gezwungen, in Institutionen zu leben: «Heute leben rund 150’000 Menschen in Heimen», sagt Markus Schefer. Er ist Mitglied in der UNO-Behindertenrechtskommission und Mitglied im Vorstand des Vereins für eine inklusive Schweiz.
«Viele dieser Menschen könnten ausserhalb von Heimen wohnen, wenn es die nötigen Unterstützungsdienstleistungen gäbe», sagt er. Die Initiative ziele darauf ab, solche zu entwickeln. «Wir können beispielsweise selbst entscheiden, mit wem wir am Morgen am ‹Zmorgetisch› sitzen, Menschen im Heim können das nicht», so Schefer. Und das sei nicht nur für ein paar Monate so – sondern ein Leben lang.
Ende der Diskriminierung im Alltag
Zweitens fordert die Inklusions-Initiative ein Ende der Diskriminierung im Alltag, die viele Menschen mit Behinderungen betreffe. Denn sie würden in vielen Bereichen immer noch ausgeschlossen. «Bei Privaten, die zentrale Dienstleistungen in der Öffentlichkeit anbieten – wie etwa Einkaufsläden, Coiffeure, Kinos oder Banken –, gibt es keine Verpflichtungen, Anpassungsmassnahmen zu treffen», stellt Schefer fest.
Bessere Teilnahme am gesellschaftlichen Leben
Letztlich will die Initiative, dass Menschen mit Behinderungen mehr Assistenz erhalten, um vollumfänglich am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. «Hier sehen wir die Spitexleistungen als Ausgangspunkt, die man den jeweiligen Bedürfnissen anpassen könnte», sagt Schefer. Die Lösung könne man nicht einfach so aus der Schublade holen – jedoch gebe es einige Länder, wie etwa Neuseeland, die mit solchen Systemen bereits gute Erfahrungen machten.
So soll die Initiative umgesetzt werden
Müssten dann also in allen Wohngebäuden etwa Rollstuhlrampen angebracht werden? «Ich denke nicht, dass wir das auf die individuelle Ebene herunterbrechen müssen», sagt Schefer. Bereits heute gebe es Vorschriften für barrierefreie Wohngebäude – diese müssten jedoch strenger sein. «Wir brauchen mehr barrierefreie Wohnmöglichkeiten, damit Menschen mit Behinderung mehr Auswahl haben», sagt er.
Das soll die Umsetzung kosten
Bis wann eine allfällige Umsetzung der Forderungen erfolgt sein müsse, sei nicht festgelegt – ganz bewusst, wie Schefer sagt. «Das war auch beim Verfassungsartikel zur Geschlechtergleichheit in den 80er-Jahren so, solche grossen Veränderungen brauchen Zeit.» Auch die Kosten seien nur schwer abschätzbar, der Initiativtext beschreibt jedoch ausdrücklich, dass die Änderungen nur «im Rahmen des Verhältnismässigen» durchgeführt werden sollen.
Auch die technologischen Fortschritte würden dabei beachtet: Mit der Entwicklung der künstlichen Intelligenz und von Robotern würden sich weitere Türen im Bereich der Assistenz öffnen. «Wir wollen aber nicht, dass man an den Betroffenen ‹schraubt› – sondern an deren Umfeld», stellt Schefer klar.
Weshalb braucht es die Initiative?
«Die allermeisten von uns werden mal eine Behinderung haben», sagt Schefer. Denn: Mit steigendem Alter steige auch das Risiko, eine Behinderung zu bekommen – wie etwa der Verlust des Sehvermögens, des Hörens oder des Gedächtnisses. Schefers Hoffnung: «Das soll den Leuten nahebringen, dass es nicht nur um ‹andere› geht, sondern auch um einen selbst.»
Am Donnerstagmittag erfolgt der Startschuss: Die Inklusions-Initiative wird von einem überparteilichen Bürgerinnen- und Bürgerkomitee mit über 1000 Mitgliedern lanciert.
Lebst du oder lebt jemand, den du kennst, mit einer Behinderung?
Hier findest du Hilfe:
Verzeichnis der Behindertenorganisationen des Bundes
Inclusion Handicap, Dachverband der Behindertenorganisationen Schweiz, Information und Rechtsberatung
EnableMe, Portal und Community von und für Menschen mit Behinderungen
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