10 Jahre Natascha und ich

Aktualisiert

Fall Kampusch10 Jahre Natascha und ich

Als im August 2006 eine gewisse Natascha Kampusch gross in den Nachrichten kam, sagte mir der Name nicht viel. Seither hat mich ihre Geschichte nicht mehr losgelassen.

von
K. Leuthold
23. August 2006: Natascha Kampusch, damals 18 Jahre alt, entkommt ihrem Entführer Wolfgang Priklopil. In eine blaue Wolldecke gehüllt wird sie von der Polizei in Sicherheit gebracht.
Im März 1998 verschwand Kampusch auf dem Weg zur Schule in Wien. Ihr Foto als Achtjährige ist das einzige Bild von ihr, das rund zwei Wochen nach der gelungenen Flucht bekannt ist.
6. September 2006: Kampusch gibt ihr erstes TV-Interview. Das Bildmaterial ist rechtlich geschützt und kann nicht verwendet werden. 20 Minuten und sämtliche Nachrichtenagenturen können das Verbot umgehen, indem sie eine Person fotografieren, während im Hintergrund das Kampusch-Interview läuft.
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23. August 2006: Natascha Kampusch, damals 18 Jahre alt, entkommt ihrem Entführer Wolfgang Priklopil. In eine blaue Wolldecke gehüllt wird sie von der Polizei in Sicherheit gebracht.

epa/Stamberg

Am Nachmittag des 23. August 2006 herrscht auf der Redaktion von 20 Minuten helle Aufregung: Natascha Kampusch lebt und sie ist wieder frei! Im ersten Moment sagt mir der Name nicht viel, ich kann mich nur vage an die Nachricht ihrer Entführung im März 1998 erinnern. Das sollte sich rasch ändern.

Am Tag nach der Flucht werde ich vom Chef beauftragt, mich des Falls anzunehmen. Seither hat mich die Geschichte begleitet. Ich sehe im ORF, wie eine Polizistin ein Mädchen gehüllt in einer Decke in Sicherheit bringt. Natascha Kampusch, ein Mädchen ohne Gesicht. Die Welt wird sich zwei Wochen lang gedulden müssen, bis sie die acht Jahre lange vermisste Kampusch zu sehen bekommt.

Eine Geschichte mit Lücken

Die ersten Bilder aus dem TV-Interview im ORF sind rechtlich geschützt und können nicht verwendet werden, heisst es. Hinter der medialen Strategie steckt die mächtige Wiener Anwaltskanzlei Lansky, Ganzger & Partner – eine Top-Adresse für Schadenersatz- und Schmerzensgeldfragen. 20 Minuten kann das Verbot umgehen: Für die Berichterstattung fotografieren wir eine Redaktorin, während im Hintergrund das Kampusch-Interview läuft.

Kampuschs Anwaltskanzlei vermarktet mittlerweile die «wahre Geschichte». Es wird die Version einer jungen Frau präsentiert, die eigentlich die letzten acht Jahre mehr oder weniger im Dunkeln verbracht hatte. Die Erwartungen des Publikums werden erfüllt. Es stellt sich aber heraus, dass Kampusch unter anderem im Winter 2006 mit ihrem Entführer Wolfgang Priklopil Ski fahren ging. Und dass sie unter der Woche im Haus mit ihrem Peiniger wohnte, sogar in seinem Bett schlief. Und dass sie über seinem Sarg weinte, als sie sich von ihm verabschiedete.

In den ersten Jahren verfolge ich, wie sich Evaluierungskommissionen in Österreich bilden und auflösen. Immer wieder kommen die Ermittler zum Schluss, dass Priklopil ein Einzeltäter war, der sich am Tag von Kampuschs Flucht aus Verzweiflung vor einen Zug warf.

An der ersten Version darf nicht gerüttelt werden

Ende 2011 wird es für mich richtig spannend. Der Redaktion von 20 Minuten werden geheime Akten zugespielt. Es sind vor allem polizeiliche Einvernahmen aus den ersten Tagen nach der Flucht, Augenzeugenberichte und Fotos — dasselbe Material, mit der sich die Sonderkommission Kampusch beschäftigt hatte.

Ich reise im Januar 2012 nach Wien, um selber die wichtigsten Schauplätze des Verbrechens zu besuchen und Interviews mit Augenzeugen und involvierten Personen zu führen. Aufgrund dessen entsteht Wochen später eine 12-teilige Serie.

Mich schockieren besonders die Bilder von Priklopils Leiche. Die Art der Verletzungen lassen den Verdacht zu, dass sich der Entführer nicht selber vor einen fahrenden Zug geworfen hat, sondern dass ihm die Kehle durchgeschnitten wurde und dann der leblose Körper auf die Gleise gelegt wurde, um einen Selbstmord vorzutäuschen.

Ich treffe den ehemaligen Präsidenten des Obersten Gerichtshofs in Wien, Johann Rzeszut. Er ist überzeugt, dass hinter der «wahren Geschichte» eine Promotionskampagne auf Initiative von Kampuschs Anwalt Gabriel Lansky geführt wird. «Wenn an der Selbstmord-Version von Wolfgang Priklopil gerüttelt wird und es sich herausstellt, dass er Komplizen hatte, bricht alles zusammen», sagt Rzeszut. Das wolle Lansky mit allen Mitteln vermeiden — an der Biografie seiner Mandantin «3096 Tage» und dem gleichnamigen Film darf nichts geändert werden.

Zum 10. Jahrestag bringt Natascha Kampusch ihr zweites Buch «10 Jahre Freiheit» heraus.

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