ChersonDarum stellt die 20 Minuten-Reporterin ihre Schuhe immer direkt neben das Bett
Mitte November zogen sich die russischen Truppen aus Cherson im Süden der Ukraine zurück. 20 Minuten berichtet aus der Stadt, die zwar befreit, aber täglich angegriffen wird.
Darum gehts
Cherson im Süden der Ukraine war bis November unter russischer Besatzung, dann mussten sich die Russen zurückziehen.
Seither überziehen sie die Stadt am Dnipro vom linken Flussufer aus täglich mit Raketen und Mörsern.
Am Wochenende des Jahrestages war es besonders heftig, wie 20 Minuten vor Ort miterlebte.
20-Minuten-Reporterin Ann Guenter berichtet, wie sie das erlebt hat, wieso es in Cherson keinen Alkohol gibt und wieso ihre Schuhe immer neben dem Bett stehen.
Seit sich die russischen Truppen Mitte November aus Cherson zurückgezogen haben, beschiessen sie die strategisch wichtige Stadt unermüdlich von der östlichen Flussseite aus. Mit dem Jahrestag hat der Beschuss zugenommen. Die Redaktion befragt die 20-Minuten-Auslandsreporterin vor Ort.
Ann, hat sich die Situation in Cherson seit dem Jahrestag zugespitzt?
Ja, das hat sie. In den letzten zwei bis drei Tagen gingen gefühlt alle 15 Minuten Mörser und Raketen auf die Stadt und die Umgebung nieder – 83 allein dieses Wochenende. Die ukrainische Raketenabwehr hatte viel zu tun, konnte aber Einschläge nicht ganz verhindern. So wurde das örtliche Elektrizitätswerk getroffen, und ein Teil der Haushalte sitzt nun in der Kälte im Dunkeln. Immerhin ist das Wetter mit zwölf Grad tagsüber etwas milder.
Wie geht es den verbliebenen Menschen in Cherson?
Diejenigen, die in Cherson geblieben sind, haben sich an den körperlichen und emotionalen Ausnahmezustand gewöhnt und es irgendwie geschafft, ihre Angst abzulegen. Die Höllengeräusche gehören für sie zum Alltag, sie reagieren kaum mehr auf die Detonationen. «Normalnje», sagen sie achselzuckend. «Wer hier geblieben ist, ist stark.» Vor einem Café nahe des Zentrums der Stadt sind am Samstag zwei Mörser auf der Strasse eingeschlagen: Das grosse Fenster zersprang, Schrapnelle schossen quer durch den Raum, und dass niemand verletzt wurde, erschien fast wie ein Wunder. Die junge Besitzerin kam, sah und packte Schüfeli und Bäseli. «Nützt nichts, weiter gehts», sagte sie.
Wie hast du die Nacht auf Sonntag erlebt?
In meinem Hotel etwas ausserhalb der Stadt habe ich kein Auge zugetan, die Kriegsgeräusche waren wirklich furchtbar, man hat schweissnasse Hände, ist konstant auf Adrenalin, merkt das aber nicht wirklich. Der Stress fährt einem in die Knochen, man ist hellwach und gleichzeitig müde. Am Sonntagnachmittag habe ich mich eine halbe Stunde lang hingelegt, weil die Nacht so kurz war. Ich liess meine kugelsichere Weste an. Das ist unbequem, aber gibt einem ein Gefühl von Sicherheit. Der Körper reagiert auf jedes Geräusch. Wenn etwa der Kühlschrank im Zimmer auf einmal summt, springt man fast an die Decke vor Schreck. Man ist konstant im Fluchtmodus. Wichtig: Immer die Schuhe neben das Bett stellen. Wenn einmal etwas einschlagen sollte und der Boden voller Splitter ist, will man nicht barfuss danach suchen müssen. Das haben mir erfahrene Kriegskorrespondenten gesagt, und ich halte mich daran.
Wie viele Kilometer von der Front entfernt warst du?
Cherson liegt am Fluss Dnipro, der auf dieser Höhe etwa 1000 Meter breit ist. Am linken, östlichen Flussufer haben sich die russischen Truppen zurückgezogen und schiessen von dort aus auf die Stadt. Entsprechend riskant ist es, an den Fluss zu gehen - was so schade ist, denn er ist wunderschön. Aber das gegenüberliegende Ufer ist gespickt mit Scharfschützen, und Drohnen spüren dort alles auf. Man erzählt sich in Cherson auch diese herzzerbrechende Geschichte: Die Frau eines Mannes soll während der russischen Besatzung verhaftet worden sein, weil sie ukrainische Symbole auf sich trug. Sie wurde auf die linke Seite des Flusses gebracht und soll dort in Haft sitzen. Ihr Mann lebt weiter in der gemeinsamen Wohnung auf der rechte Seite des Flusses. Er soll neben den Russen jetzt auch den Fluss hassen, weil dieser ihn von seiner Frau trennt. Ich kann das nicht verifizieren, aber wie sagt man: Se non è vero, è ben trovato.
Mittlerweile bist du wieder in Mykolajiw. Wie sieht es dort aus?
Mykolajiw ist etwa eine Stunde mit dem Auto entfernt. Man passiert einige Checkpoints – und kommt in eine andere Welt. Keine Explosionen, keine unheimlichen Geräusche von Gradraketen, keine klirrenden Fensterscheiben, einfach nur Alltag, wie auch wir ihn kennen. Nachdem ich aus dem Bus ausstieg, ging ich eine Pizza essen und trank ein Bier. In Cherson wird kein Alkohol verkauft, auch im Donbass übrigens nicht: Betrunkene Zivilisten oder Soldaten im Kriegsgebiet sind wenig hilfreich. Mykolajiw gilt als «Stadt der Helden», weil hier der russische Vorstoss gegen Odessa aufgehalten wurde. Sie wurde letztes Jahr schwerst beschossen, doch mit der Rückeroberung von Cherson hat auch der Beschuss hier aufgehört. Das Problem, das die Stadt aber immer noch hat: Es gibt immer wieder starken Wasser- und Strommangel. Gerade jetzt ist es hier stockfinster, die Strassen sind unbeleuchtet, in den Wohnungen haben viele nur Kerzen als Lichtquelle.
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