Antisemitismus«Alle Schüler müssen den Holocaust durchnehmen»
2021 haben antisemitische Vorfälle stark zugenommen. Vertreter jüdischer Organisationen und Experten befürchten, dass das so bleibt. Die Grünen fordern einen Aktionsplan.
Darum gehts
Im zweiten Corona-Jahr hat sich die Zahl der antisemitischen Vorfälle stark erhöht – vor allem im Internet. Dies registrierten der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG) und die Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus (GRA) in ihrem neusten Bericht. Die Vorfälle reichen von handfesten Übergriffen wie die Vandale-Akte an Westschweizer Synagogen bis hin zu Verschwörungstheorien rund um Corona.
Jonathan Kreutner, Generalsekretär des SIG, ist alarmiert. «Es ist ein Dammbruch, nicht mehr aufhaltbar», sagt er. Die Covid-Pandemie sei offensichtlich ein Trigger für unterschwellige Judenfeindlichkeit, die nun offener geäussert werde, insbesondere von Massnahmengegnern und -gegnerinnen auf Telegram.
Die Jüdinnen und Juden würden für die Pandemie verantwortlich gemacht. Dies wiederum erinnert an vergangene Zeiten, als sie zum Sündenbock wurden: im Mittelalter für die Pest, zu Beginn des 20. Jahrhunderts für die Arbeitslosigkeit.
«Könnte sich auf höherem Niveau festsetzen»
Kreutner befürchtet, dass dieser Antisemitismus mit den Covid-Massnahmen nicht einfach wieder verschwindet, sondern «wirklich zu einem Problem wird», dass er sich auf einem höheren Niveau festsetzen könnte. Religionswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler haben diese Befürchtung ebenfalls (siehe Box). Jens Schlieter von der Universität Bern hält das Klima für «nicht ungefährlich». Und die Publizistin und Religionsexpertin Klara Obermüller sagt, die Sorgen seien berechtigt.
Grüne-Nationalrätin Sibel Arslan wird nächste Woche in der Frühlingssession eine Motion einreichen, deren Entwurf 20 Minuten vorliegt. Sie will, dass der Bund gemeinsam mit den Kantonen eine Strategie und einen Aktionsplan gegen Antisemitismus erarbeitet. «Jemand beim Bund muss zuständig sein für dieses Thema», sagt die Basler Politikerin. Dabei sieht sie mehrere Schwerpunkte:
Problem-Analyse: Zuerst einmal müsse das Kind beim Namen genannt werden. Bisher habe der Bund ein Problem mit Antisemitismus nicht anerkannt. «Man muss die Diagnose stellen, bevor man mit der Therapie beginnen kann.»
Bildung: Die Sensibilisierung und Thematisierung des Zweiten Weltkriegs müsse auf Stufe der Volksschule ausgebaut werden. «Alle Schülerinnen und Schüler müssen den Holocaust und die Judenverfolgung durchnehmen», sagt Arslan.
Social Media: Der Antisemitismus hat insbesondere im Internet massiv zugenommen. Deshalb müssten schon Jugendliche vermehrt auch für unterschwellige Hassbotschaften sensibilisiert werden. Und ebenfalls müsse der Bund die Internet-Plattformen in die Pflicht nehmen.
Prävention: Der Bund müsse dafür sorgen und die Mittel bereitstellen, dass durch Aufklärungs- und Informationsarbeit antisemitischen Vorurteilen entgegengewirkt werde, sagt Sibel Arslan. Zudem brauche es ein zentrales Monitoring antisemitischer Vorfälle.
Hilfe für Betroffene: Wer betroffen ist, soll Unterstützung bekommen und sich an eine unabhängige Meldestelle beim Bund oder beim Kanton wenden können.
Die Grüne-Fraktion bekommt auch aus anderen Parteien Unterstützung für dieses Vorhaben. Die SP sei an dem Thema mit diversen Vorstössen dran, sagt Nationalrat Fabian Molina. Den Vorstoss von Sibel Arslan werde man unterstützen. Mitte-Nationalrätin Marianne Binder, deren Forderung nach einem Nazisymbol-Verbot kürzlich vom Bundesrat abgelehnt wurde, will insbesondere das Monitoring vorantreiben. Ein Aktionsplan gegen Antisemitismus sei absolut notwendig, sagt sie.
Kampagne soll nicht vom Bund kommen
Nationalrat Alfred Heer (SVP) befürwortet ein Engagement des Bundes ebenfalls. Er bezweifelt jedoch, dass staatliche Kampagnen geeignet sind als Mittel gegen Vorurteile. «Diese Leute kann man vielleicht eher durch persönliche Kontakte erreichen.» Eine Möglichkeit wäre deshalb, dass der Bund jüdische oder andere zivilgesellschaftliche Organisationen bei diesem Engagement unterstützt. «Die Landeskirchen könnten sich in diesem Thema auch engagieren», sagt Heer.
«Jetzt kommt das Zeug hervor»
Bist du oder ist jemand, den du kennst, von Antisemitismus betroffen?
Hier findest du Hilfe:
GRA, Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus
Jüdische Fürsorge, info@vsjf.ch
Pro Juventute, Beratung für Kinder und Jugendliche, Tel. 147
Dargebotene Hand, Sorgen-Hotline, Tel. 143