Ukraine: Putin soll schlecht über Lage informiert sein

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Ukraine-KriegBeim Morgen-Briefing erhält Putin Schmeicheleien statt harte Facts

Um Putins Wissensstand im Ukraine-Krieg soll es schlecht stehen. Es heisst, er habe sich eine Machtstruktur aufgebaut, die ihm nur die Informationen liefert, die er hören will.

«Die Menschen um Putin herum schützen sich selbst», so ein Mitglied des von Putin handverlesenen Menschenrechtsrates, bis er diesen im November absetzte.
Putin habe 22 Jahre lang ein System aufgebaut, das ihm schmeichle, indem es entmutigende Informationen zurückhalte oder beschönige, berichten kremlnahe Personen.
Putins allmorgendliches Sieben-Uhr-Briefing über den Krieg soll sorgfältig zusammengestellt sein, um Erfolge hervorzuheben und Rückschläge herunterzuspielen.
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«Die Menschen um Putin herum schützen sich selbst», so ein Mitglied des von Putin handverlesenen Menschenrechtsrates, bis er diesen im November absetzte.

AFP

Darum gehts

  • Der russische Präsident soll isoliert und misstrauisch sein.

  • Verschiedene Insider berichten, Wladimir Putin habe sich ein Umfeld aus Hardliner-Beratern aufgebaut, die ihn mit beschönigten Informationen beliefern.

  • Aus Angst vor digitaler Überwachung weigere er sich seit langem, das Internet zu nutzen, und sei darum noch abhängiger.

Bei der Schlacht um die ostukrainische Stadt Lyman beharrte Putin darauf, dass die Soldaten durchhalten sollten, und war überzeugt, ein baldiger Erfolg läge in Griffweite. Doch die russischen Truppen waren praktisch eingekesselt und sahen sich massivem Artilleriebeschuss ausgesetzt. Schliesslich traten sie einen überhasteten Rückzug an und hinterliessen viele Leichen sowie militärisches Material, das in die Hände der Ukrainer fiel.

Die Durchhalteparolen des russischen Präsidenten für Soldaten, die sich in einer schlechten oder gar aussichtslosen Lage befinden, stützten sich offenbar auf unvollständige oder falsche Informationen. Und mit diesen war Putin von Anfang an konfrontiert. Der russische Präsident rechnete mit einem schnellen, glorreichen Sieg in der Ukraine. Der Oligarch und enge Vertraute Putins Wiktor Medwedtschuk hatte dem Präsidenten versichert, die Ukrainer würden sich als Russen betrachten und einmarschierende Soldaten mit Blumen begrüssen, wie zwei kremlnahe Personen dem «Wall Street Journal» berichten.

«System um Putin hält entmutigende Informationen zurück»

Putin habe 22 Jahre lang ein System aufgebaut, das ihm schmeichle, indem es entmutigende Informationen zurückhalte oder beschönige. Er sei isoliert und misstrauisch an der Spitze einer Führung, die ihn in seinen kriegerischen Absichten bestärken und nicht mit negativen Nachrichten entmutigen soll, schreibt das «Wall Street Journal».

Denkst du, Putin ist gut über die Lage in der Ukraine informiert?

«Die Menschen um Putin herum schützen sich selbst», so Ekaterina Vinokurova, Mitglied des zunächst von Putin handverlesenen und im November wieder abgesetzten Menschenrechtsrats. «Sie sind der festen Überzeugung, dass sie den Präsidenten nicht verärgern dürfen». Es heisst, der russische Präsident sei so misstrauisch gegenüber seiner eigenen Kommandostruktur geworden, dass er anfing, Befehle direkt an die Front zu erteilen.

Rückschläge herunterspielen, Erfolge hervorheben

Laut dem ehemaligen russischen Geheimdienstoffizier sowie aktuellen und ehemaligen russischen Beamten wacht Putin täglich gegen sieben Uhr morgens auf und erhält ein schriftliches Briefing über den Krieg, dessen Informationen sorgfältig zusammengestellt sind, um Erfolge hervorzuheben und Rückschläge herunterzuspielen.

Aus Angst vor digitaler Überwachung weigert er sich seit langem, das Internet zu nutzen, so russische und US-amerikanische Beamte, was ihn noch abhängiger von den Briefing-Unterlagen macht, die von ideologisch ausgerichteten Beratern zusammengestellt werden. So soll es teilweise mehrere Tage dauern, bis aktuelle Informationen über das Schlachtfeld auf Putins Schreibtisch landen, wodurch sie oft veraltet sind.

Kreml-Sprecher widerspricht

«Der Präsident hat, wie schon früher, mehrere Kanäle, um Informationen zu erhalten», so Kreml-Sprecher Dmitri Peskow. «Alle Behauptungen, dass er verzerrte Informationen erhalte, entsprechen nicht der Realität.» Doch die Recherchen des «Wall Street Journal» sprechen eine andere Sprache: Bei verschiedenen diesjährigen Putin-Treffen sollen die Beteiligten den Eindruck erhalten haben, der Präsident habe kein klares Bild vom Konflikt.

In einer Rede im April sagte CIA-Chef Bill Burns, Putins Beraterkreis habe sich verengt, und in diesem kleinen Kreis sei es nie karrierefördernd gewesen, Putins Urteilsvermögen oder seinen Glauben infrage zu stellen, dass es sein Schicksal ist, Russlands Einfluss in der Welt wiederherzustellen.

«System der Selbsttäuschung»

Laut Boris Bondarev, einem desertierten russischen Karrierediplomaten, der nach Beginn der Invasion von seinem langjährigen Posten bei der ständigen Vertretung Russlands bei den Vereinten Nationen in Genf zurückgetreten war, hat sich Putins System der Selbsttäuschung über lange Zeit hinweg entwickelt. Viele Beamte lernten demnach, während zwei Jahrzehnten Putin-Herrschaft, Moskau jene Geschichten zu erzählen, die es hören wollte.

«Beamte und leitende Angestellte wussten, dass sie, um Lob und Beförderungen zu erhalten, gute Nachrichten übertreiben und die schlechten herunterspielen sollten – aus Angst, ‹Papa› zu verärgern», so Bondarev. «Papa» sei ein Spitzname für Putin, der einst auch für russische Zaren verwendet worden sei.

«Alles läuft nach Plan»

Einen Hinweis darüber, wie Putins Umfeld mit Kriegsinformationen umgeht, liefert auch eine Szene vom Beginn der Ukraine-Invasion. Fünfzehn Tage nach Beginn des Krieges, nachdem sein Schnellangriff auf Kiew gescheitert war, sass Putin mit finsterer Miene in einem goldbestickten Sessel, als ihn sein Verteidigungsminister in einer im Fernsehen übertragenen Sitzung über eine Videoverbindung informierte.

«Wladimir Wladimirowitsch, alles läuft nach Plan», sagte Schoigu. «Wir berichten Ihnen das jeden Tag.»

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