Als der Orgasmus weiblich wurde

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Motörchen der BefreiungAls der Orgasmus weiblich wurde

Erregung zur Krampflösung: Der Vibrator wurde von Männern erfunden, um «kranke» Frauen zu behandeln. Der neue Kinofilm «Hysteria» zeichnet den Siegeszug des grossen «Manipulators» nach. Von Philipp Dahm

Die Geschichte des Vibrators ist eine Geschichte voller Missverständnisse. Der «Massagestab» diente der Männerwelt einst dazu, «kranke» Frauen zu behandeln, die an «weiblicher Hysterie» litten – demoralisierten Damen eröffnete er eine völlig neue Welt und Unabhängigkeit. Kein Wunder, dass die Unterhaltungsindustrie das Thema für sich entdeckt hat: Heute startet der Film «Hysteria» in den Kinos, der den britischen Erfindern des Vibrators in die Köpfe, auf die Finger und in die Hose schaut (siehe Filmtrailer unten).

Bis dato war der Orgasmus Männersache: Dass sich das Lustempfinden der Damen von dem der Herren unterscheidet, kam früher keinem in den Sinn. Das traditionelle Sexbild setzt auf Koitus und Penetration. Kommt die Frau dabei nicht zum Zuge, so die androzentrische Sichtweise, gibt es dafür zwei Gründe: Entweder sie ist frigide oder abnormal. Der weibliche Höhepunkt wurde also als «Nebenwirkung» des männlichen Pendants betrachtet – wenn er nicht völlig verneint wurde. Der durchschnittliche Adam ging ausserdem davon aus, dass seine Eva nicht befriedigt, sondern Mutter werden will.

Frauen-Befriedigung ist «Nebensache» Diese vorsintflutliche Sichtweise ist so alt wie die westliche Kulturgeschichte: Sie reicht von der Antike über Mittelalter und Renaissance bis in die Moderne. Schon Hippokrates, dem die Ärzte ihren Eid verdanken, beschrieb vor Christi Geburt die Symptome weiblicher Hysterie. Galenos von Pergamon, der im 2. Jahrhundert nach Christus in Rom praktizierte, erklärte das Phänomen mit seiner «Viersäftelehre», die Krankheit als Folge unausgeglichener Körperflüssigkeiten versteht: Wenn eine Witwe zu wuschig war, lag das laut Galen an «Samen», die den Uterus verstopfen.

Die «weibliche Hysterie» erfasste besonders oft Nonnen, Alleinstehende oder unglücklich Verheiratete, denen nur auf einem Weg geholfen werden konnte. «Wir glauben, dass es notwendig ist, eine Hebamme um Hilfe zu bitten, damit sie die Genitalien mit Öl aus Lilien, Moschuswurzeln, Krokus oder ähnlichem und mit einem Finger von innen massieren kann», schrieb der niederländische Arzt Pieter van Foreest 1653. «Auf diesem Weg kann die erkrankte Frau bis zum Krampf erregt werden.» Der «hysterische Krampf» bewirke dann den Austritt der «schädlichen Flüssigkeiten» und beruhige die Frau.

Der Job, den keiner machen wollte Die Symptome der «Krankheit» waren vielfältig: Schlaflosigkeit, Angstattacken, Nervosität, erotische Fantasien, Druckgefühle im Bauch, Hüftleiden oder vaginale Feuchtigkeit. Junge, ledige Mädchen wurden aber nicht behandelt: Ihnen wurde zur Heirat geraten. Dass die Frau selbst Hand an das Problem legt, war dagegen verpönt. Statt verbotener Masturbation solle die Frau lieber «stark von ihrem Gatten gestossen werden», empfahl der französische Doktor Ambroise Paré (1510 – 1590). Oder aber ein Arzt oder eine Hebamme erledigen den Job, «den keiner machen wollte», wie Autorin Rachel Maines in «The Technology of Orgasm» zusammenfasst.

In einer Vergangenheit, die von Männern dominiert war, lag der sexuelle Höhepunkt der Frau im Orgasmus des Mannes. Dass Damen von Ärzten und Hebammen unter dem Deckmantel einer medizinischen Behandlung klinisch Erleichterung verschafft wurde, störte dagegen paradoxerweise niemanden. Es ging ja nicht um Lust, sondern um das Erreichen des «hysterischen Krampfes»: Ende des 19. Jahrhunderts waren drei Viertel aller Patientinnen von «weiblicher Hysterie» betroffen, schätzten damals die britischen Mediziner Russell Trall und John Butler. Weil die Massagen der Damen bis zu einer Stunde Zeit in Anspruch nahmen, waren die ersten Vibratoren ein Segen. Die Ärzte brauchten weniger Fingerfertigkeit und weniger Zeit, um die Erkrankten zu «heilen».

Der Vibrator als «Fliessband» der «Hysteria»-Heiler Erst erleichterten Brausen und Wasserduschen die Patientenvisite, dann erfand 1869 George Taylor den dampfgetriebenen «Manipulator», der Ladys in den siebten Himmel schüttelte: Der Amerikaner empfahl, den Apparat nur unter Aufsicht zu benutzen, um einer «Überdosierung» aus Lustsucht vorzubeugen. Die Elektrifizierung sorgte 1883 für die Präsentation des ersten elektromechanischen Gerätes von Joseph Mortimer Granville. Es war ursprünglich für Männer entwickelt worden, erfreute sich aber bei der viktorianischen Damengesellschaft grosser Beliebtheit: Der neue Kinofilm zeichnet Granvilles Erfolgsgeschichte nach.

Das saubere Image der intimen Hysterie-Behandlung bekam erst in den 20er Jahren Risse. Zum einen führten Sigmund Freuds Lehren die Medizin aus ihrer geistigen Umnachtung: 1952 strich die «American Psychatric Association» weibliche Hysterie aus der Liste der Krankheiten. Zum anderen wurden die Vibratoren bald in frühen Fummelfilmen eingesetzt und verloren so den Nimbus des Asexuellen. Heute ist die Geschichte fast vergessen: Wer denkt 2012 noch daran, dass der Vibrator ein Meilenstein auf dem Weg zu weiblicher sexueller Selbstbestimmung war? Zumindest «Hysteria»-Regisseurin Tanya Wexler hat dieses Kuriosum der Medizingeschichte nicht vergessen.

Der «Hysteria»-Filmtrailer auf Englisch.

Der deutschsprachige Trailer.

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