HolodomorAls Stalin Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer verhungern liess
In den 1930er-Jahren nutzte der sowjetische Diktator Josef Stalin eine Reihe von Missernten, um den ukrainischen Freiheitswillen zu unterdrücken.
Darum gehts
In der ersten Hälfte der 30er-Jahre des letzten Jahrhunderts wurde die Sowjetunion (UdSSR) von der grössten Hungersnot ihrer Geschichte heimgesucht. In mehreren Teilrepubliken, darunter die Ukraine, Russland und Kasachstan, starben in dieser Zeit schätzungsweise neun Millionen Menschen. Die Hungersnot war menschgemacht. Sie war eine Folge der Politik der Kommunisten unter Diktator Josef Stalin.
Die meisten Opfer forderte die Hungersnot in der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik. Moderne Schätzungen gehen von 3,5 bis 4,5 Millionen Hungertoten aus. Stalin nahm diese Opfer in Kauf, um einerseits die im Fünfjahresplan von 1928 formulierten Ziele der beschleunigten Industrialisierung der UdSSR zu erreichen und andererseits, um den ukrainischen Freiheitswillen zu brechen.
Kampf gegen die ukrainische Elite
Bereits seit den 1920er-Jahren gingen die Kommunisten, die sich damals Bolschewiki nannten, im Rahmen einer Kampagne der Russifizierung gegen ukrainische Intellektuelle und Geistliche vor. Zehntausende wurden ermordet oder nach Sibirien deportiert. Die Bolschewiki gingen aber auch gegen Bauern vor, die sich gegen Unterdrückung und die Zwangskollektivierung ihres Besitzes wehrten.
Ziel der Zwangskollektivierung war es, grössere Farmen zu schaffen, die effizienter bewirtschaftet werden sollten. Meist war aber das Gegenteil der Fall. Da bewusst zu wenig Traktoren in die Ukraine geliefert wurden und die Bauern nicht mehr für sich selber wirtschafteten, sanken die Erträge. 1931 und 1932 kam es in der Ukraine zu Missernten, die als der Beginn des Holodomors angesehen werden. Holodomor ist die ukrainische Bezeichnung für diese Hungersnot und kann mit «Tötung durch Hunger» übersetzt werden. Gemeint ist damit, dass der Hunger bewusst herbeigeführt wurde, um Menschen zu töten.
Hunger führte zu Kannibalismus
Trotz der Missernten erhöhte die kommunistische Zentralregierung die Abgabenquote für Getreide stetig. Das Getreide wurde exportiert, um an Devisen zu kommen und damit die Industrialisierung und militärische Aufrüstung voranzutreiben. Um an noch mehr Getreide zu kommen schickte Stalin ab 1932 Brigaden los, die auf den Höfen nach versteckten Vorräten suchten und alles mitnahmen, was sie fanden. Darunter auch das Korn, das für die nächste Aussaat bestimmt war.
Zudem verbot Stalin die Nachlese. Nach der Ernte durften die Felder nicht mehr betreten werden, um etwaige Getreidereste einzusammeln. Die Strafen waren hart: zehn Jahre Arbeitslager oder die Todesstrafe. In den ersten fünf Monaten kamen 54’000 Menschen in Arbeitslager, 2110 wurden hingerichtet. Zudem liess Stalin die Grenzen der Ukraine schliessen, um so die Menschen an der Flucht vor dem Hunger zu hindern.
Auf den Strassen der Dörfer und Städte wurden die Leichen von verhungerten Menschen zum alltäglichen Bild. Auf dem Höhepunkt des Holodomors starben schätzungsweise 25’000 Menschen täglich an Unterernährung. Der Hunger trieb die Menschen auch zum Kannibalismus. Die Sowjetführung hängte deshalb Plakate mit der Botschaft auf, dass es barbarisch sei, seine Kinder zu essen.
Kaum Reaktionen im Ausland
Im Ausland blieb der Holodomor weitgehend unbeachtet. Offiziell gab es in der Sowjetunion keine Hungersnot. Zwar gab es Journalisten wie den später unter mysteriösen Umständen ermordeten Briten Gareth Jones, die aus erster Hand über die Zustände in der Ukraine berichteten. Dem widersprach der einflussreiche amerikanische Journalist und Stalin-Freund Walter Duranty in der «New York Times» im März 1933 mit dem Artikel «Russians Hungry but not Starving» (Die Russen sind hungrig, aber nicht am Verhungern). 1935 erschien ein Buch mit Fotografien des österreichische Chemikers Alexander Wienerberger, die er 1933 in der Ukraine aufgenommen hatte. Sie zeigten eindrücklich das Elend der verhungernden Bevölkerung.
Trotzdem blieb eine internationale Reaktion weitgehend aus. Dies nicht zuletzt, weil westliche Regierungen im Vorfeld des Zweiten Weltkriegs um gute Beziehungen zu Stalin bemüht waren. Erst in den 1980er-Jahren gab die Sowjetführung zu, dass es 1932 und 1933 eine Hungersnot gegeben hatte, ohne allerdings ihre Schuld anzuerkennen. Bis heute ist sich die Welt nicht einig, ob es sich beim Holodomor um einen vorsätzlich geplanten Völkermord gehandelt hat. Nur eine Handvoll Länder, darunter Kanada und Polen, haben den Holodomor offiziell als Völkermord anerkannt.
Trotzdem hat der Holodomor bis heute Folgen. Der selber aus Georgien stammende Diktator Stalin liess in den durch die Hungersnot am stärksten entvölkerten Gegenden der Ukraine Russen ansiedeln. So sind die am weitesten östlich gelegenen Gebiete Donezk und Luhansk bis heute mehrheitlich von Russen besiedelt. Dort führen russische Separatisten seit 2014 Krieg gegen die Ukraine, um Unabhängigkeit zu erlangen. Dieser Konflikt dient dem russischen Präsidenten Wladimir Putin als eine Rechtfertigung für die Invasion der Ukraine.
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