Toter Paolo (4) in Bülach«Die Mutter hat täglich eine Flasche Wein getrunken»
Eine 31-jährige Frau aus Kamerun soll ihren vierjährigen Sohn in der Wohnung in Bülach getötet haben. Das Gericht ist von ihrer Schuldunfähigkeit überzeugt, setzte den Entscheid aber noch aus. Der Grund: Die Anklageschrift soll ergänzt werden.
Darum gehts
- Eine 31-jährige Kamerunerin soll im Januar 2019 ihren viereinhalbjährigen Sohn getötet haben.
- Laut Anklage hat sie dem Knaben die Haut an Armen und Oberschenkeln verdreht (sogenannte «Brennnesseln») und ihn mit einem Gürtel und Elektrokabel geschlagen.
- Der Knabe erlitt Einblutungen und Quetschungen des Unterhautfettgewebes, was zu einer Lungenfettembolie mit akutem Herzversagen führte.
- Für das Gericht ist der Tod nicht vorsätzlich erfolgt, sondern durch Körperverletzung in Verbindung mit Fahrlässigkeit. Deshalb soll die Anklageschrift entsprechend geändert werden.
- Das Urteil wird an einem neuen Prozesstermin erfolgen
Die unvorstellbare Tat hat sich im Verlauf des Wochenendes vom 19./20. Januar 2019 in der damaligen Wohnung der Beschuldigten in Bülach ereignet. Die heute 31-jährige Kamerunerin hat laut Anklageschrift den knapp viereinhalbjährigen Sohn zwecks Züchtigung mit einem Gürtel und einem zur Schlaufe geformten Elektrokabel geschlagen und ihm mit einer sogenannten Brennnessel an Armen und Beinen die Haut verdreht. Der Knabe starb an den Folgen von grossflächigen Einblutungen und Quetschungen des Unterhautfettgewebes an Armen, Beinen und Oberkörper, welche zu einer Lungenfettembolie mit akutem Herzversagen führten. Die Frau war an jenem Sonntagabend auf dem Rand des Brunnens in Bülach Untertor unweit der Wohnung gesessen – in den Armen hielt sie unter einer Decke verborgen das tote Kind, als die alarmierte Sanität kam.
Niemand hat etwas bemerkt
Am Prozess vor dem Bezirksgericht Bülach vom Freitag kamen zuerst Fachleute zu Wort. So sagten zwei Psychologinnen und ein Sozialpädagoge, welche die Frau nach der Scheidung behandelt hatten, dass es keine Hinweise auf Fremd- oder Eigengefährdung gegeben habe. «Ich hätte nie gedacht, dass etwas passieren könnte», sagte eine der Psychologinnen: «Es lag keine Gefährdungssituation vor, die Frau hat einen stabilen und ruhigen Eindruck hinterlassen.» Hinweise auf einen grossen Alkoholkonsum oder auf einen religiösen Wahn hätten sie nicht bemerkt. Die Frage des Richters, ob ihnen bekannt war, dass die Frau schon in der Vergangenheit zweimal mit dem Söhnchen im Kinderspital war, weil er sich an heissem Tee verbrüht und bei einem Treppensturz verletzt haben soll, verneinten beide. «Ich hätte sicher nachgefragt, wenn ich davon gewusst hätte», sagte eine der Psychologinnen. Das Verhältnis der Mutter zum Kind beschrieb sie als gut, der Sohn sei der Lebensinhalt der Frau gewesen. Sie sei sehr engagiert gewesen und habe das Kind überbehütet.
Die Frau war wegen psychosozialer Probleme nach der Trennung von ihrem ebenfalls aus Kamerun stammenden Mann 2018 in Behandlung. Damals wohnte das Paar noch in Regensdorf. Die Trennung verlief dramatisch, so demolierte die Frau die Wohnung. «Aus Rache gegen den Mann», wie sie der Polizei sagte. Der Sozialpädagoge sagte, dass in einem Bericht an die Behörden bei der Frau keine psychischen Störungen diagnostiziert worden seien. Im Bericht wurde aber geschrieben, dass man aufmerksam sein soll, «dass sich die Rachespirale nicht mehr weiterdreht und pathologische Züge annimmt».
Psychiater kommt zu anderem Schluss
Elmar Habermeyer, Direktor Klinik für Forensische Psychiatrie an der Psychiatrischen Universitätsklinik, kommt in seinem Aktengutachten aber zu einem anderen Resultat. Er hat das Gutachten im Auftrag des Staatsanwalts erstellt. Für ihn litt die Frau an Schizophrenie, hatte Wahnvorstellungen und Halluzinationen. Auf die Frage des Richters, warum dies weder Behörden noch Fachleute festgestellt hatten, sagte der Psychiater, dass ihm die Distanz eine Übersicht ermöglicht habe. «Die Gesamtschau hat ein klares Bild gegeben.» Es sei in Krisensituationen schwierig gewesen, mit ihr zu sprechen.
Laut Habermeyer war die Frau Alkoholikerin und hat täglich eine Flasche Wein getrunken, dies habe die Haaranalyse ergeben. Nach der Tat war bei ihr ein Alkoholgehalt von 2,5 Promille gemessen worden. Die Demolierung der Wohnung sei auch ein Hinweis auf Schizophrenie, ebenso die vielen Briefe mit Anschuldigungen an den Staatsanwalt. Habermeyer: «Sie war sehr krank, liess aber nach aussen keinen Einblick in ihr Inneres geben.» Es fehle bei ihr die Einsicht für die Tat, sie müsse medikamentös behandelt werden, nötigenfalls auch gegen ihren Willen.
Anwältin des Ex-Mannes: «Es war Mord»
Für den Staatsanwalt war die Tat eine vorsätzliche Tötung. Die Frau sei gemäss Gutachten aber nicht schuldfähig, deshalb solle das Gericht eine stationäre Massnahme zur Behandlung der psychischen Störungen, eine sogenannte kleine Verwahrung, anordnen.
Die Rechtsvertreterin des Ex-Mannes plädierte auf Mord: «Die Frau soll eine lebenslänglichen Freiheitsstrafe erhalten.» Die Tat hätte eine Rache sein können wie die Demolierung der Wohnung. Sie machte ein Fragezeichen bezüglich der 2,5 Promille Alkohol, es könnte auch ein Nachtrunk gewesen sein. Die Anwältin verlangte für ihren Mandanten eine Genugtuung von 70’000 Franken.
Der Anwalt der Beschuldigten forderte einen Freispruch vom Vorwurf der vorsätzlichen Tötung und verlangte eine Entschädigung für die bis jetzt andauernde Haft. Sie sei höchstens der fahrlässigen Tötung schuldig zu sprechen und es sei eine ambulante Massnahme anzuordnen. Die Frau selbst verweigerte am Prozess jegliche Aussagen und schwieg. Sie hatte nach der Verhaftung gesagt, dass der Sohn an jenem Abend die Kellertreppe hinuntergestützt sei und dadurch die Verletzungen erlitten habe. Laut dem Anwalt gab es in der Vergangenheit keine Hinweise auf Gewaltanwendungen durch die Mutter. Zudem habe sich die Lebenssituation der Frau stabilisiert. Das lebhafte und hyperaktive Kind könnte sich auch beim Spielen selbst verletzt haben. «Das Gericht muss ernsthaft in Zweifel ziehen, dass die Frau das Kind misshandelt hat», begründete der Anwalt seinen Antrag auf Freispruch.
Das Bezirksgericht Bülach fällte noch kein Urteil. Es geht zwar von der Schuldunfähigkeit der Frau aus. Zudem sei der Sachverhalt so passiert, wie er in der Anklageschrift beschrieben wird. Doch habe die Frau das Kind nicht vorsätzlich getötet. Das Gericht geht davon aus, dass es sich um eine einfache, beziehungsweise schwere Körperverletzung in Verbindung mit fahrlässiger Tötung gehandelt hat. Deshalb gibt es dem Staatsanwalt die Möglichkeit, die Anklageschrift entsprechen zu ergänzen oder zu ändern. Wie dieser auf Anfrage sagte, werde er dies tun. Wann der neue Prozess stattfindet, ist noch offen.