Der verhinderte Biograph«Angespannter, emotionaler, gereizter»
Bundesrat Hans-Rudolf Merz hat sein Amt unterschätzt, bezeichnete Gaddafi als «Maske» und besitzt keine wirklichen Freunde – sagt einer, der es wissen muss.
Alleine sass er am Tisch. Die Leute starrten ihn an. Niemand unterhielt sich mit ihm, dem Bundesrat. Nur einer setzte sich zu Hans-Rudolf Merz und nahm das Gespräch auf: Philippe Reichen, Kulturredaktor der «Appenzeller Zeitung».
Das war im Jahr 2007 – und der Beginn einer Beziehung mit einem abrupten Ende. Doch dazu später. Reichen fängt an, sich mit Merz zu beschäftigen: «Ich war beeindruckt, als ich entdeckte, was er in seinem Leben alles gemacht hat – in Wirtschaft, Kultur, Sport und Politik.» In Absprache mit Merz beginnt Reichen, eine Biographie zu schreiben, die kurz vor dessen Präsidialjahr gegen Ende 2008 erscheinen soll. Für das Buch interviewt Reichen mehr als 60 Personen aus Merz' Umfeld, führt Gespräche mit dem Bundesrat und wertet schriftliche Quellen aus.
«Merz hat keine wirklichen Freunde»
In einem Interview mit dem «Tages-Anzeiger» beschreibt Reichen Merz als einsamen Menschen: «Er kennt zwar sehr viele Leute, wirkliche Freunde aber hat Bundesrat Merz nicht. Er ist gerne allein.» Merz habe unglaublich hohe Ansprüche an sich selbst: «Einst schrieb er einen Essay über die ‚elative Persönlichkeit'.» Elativ ist der absolute Superlativ – ohne jeden Vergleich. Gerne hätte Reichen Merz gefragt, ob dies seinem Selbstbild entspreche. Trotz allem habe Merz das Amt des Bundesrats unterschätzt, vor allem dessen Intensität, wie er Reichen gegenüber sagte. Merz habe sich sein Leben lang mit dem Aufstieg beschäftigt und alles dafür getan. Seinen Höhepunkt habe er jedoch nicht erreicht: eine gelungenes Präsidialjahr.
Kurz vor seinem Präsidialjahr, am Abend des 20. Septembers 2008, kommt es zu dem, was Reichen als «Zäsur» im Leben von Merz bezeichnet: Der Bundesrat hat einen Herz-Kreislauf-Stillstand, ist mehrere Minuten bewusstlos und muss reanimiert werden. Bereits sechs Wochen später, am 3. November, kehrt Merz in sein Amt zurück. Doch er war verändert. «Er war angespannter, emotionaler und gereizter», schreibt Reichen. Merz habe gemerkt, dass er nicht alles kontrollieren könne. «Sein Herz stieg aus, obwohl er sehr bewusst lebte, Grüntee trank und sich viel bewegte.» Merz ruft Reichen an, besteht darauf, dass die Publikation der Biographie verschoben werden müsse. Ohne das Präsidialjahr sei sie unvollständig. Der neue Termin: Frühjahr 2010.
Das Annus horribilis
Dann kam 2009, Merz' Jahr als Bundespräsident. Doch was als Höhepunkt geplant war, geriet zum Annus horribilis. In der Bankenkrise agiert Merz zögerlich, in der Libyen-Affäre zu leichtgläubig. Eigentlich sei Merz ein guter Menschenkenner, so Reichen, doch Gaddafi habe er offenbar falsch eingeschätzt. Bei einem Kamingespräch habe er ihn denn auch als «Maske» bezeichnet.
Merz' zögerliches Handeln in der Bankenkrise erklärt sich Reichen mit der Herkunft des Bundesrates. In der Regierung des Kantons Appenzell sassen jahrelang sechs Freisinnige und ein Sozialdemokrat – dieser wurde jedoch ständig überstimmt: «Die ausserrhodischen Patrons genossen dadurch viel Freiraum, sorgten aber im Gegenzug freiwillig für das Gemeinwohl ihrer Arbeiter.» Diese Selbstverantwortung habe Merz geprägt: «Deshalb erwartete er wohl, dass die UBS die Suppe selbst auslöffelt, die sie sich eingebrockt hat. Dadurch ging Zeit verloren, die ihm später fehlte.»
Zeit verloren hat auch Philippe Reichen: Noch Ende 2009 schickte er Merz Fragen, um dessen Präsidialjahr aufzuarbeiten. Merz sagte damals, jetzt sei der richtige Zeitpunkt für eine Publikation der Biographie. Doch dann hörte Reichen lange nichts mehr – bis ihm Merz' Kommunikationschefin Tanja Kocher im Februar 2010 mitteilte, das Buch dürfe nicht erscheinen; weder jetzt noch in der Zukunft. Reichen und seine Lektorin hatten über ein halbes Jahr an dem Buch gearbeitet.
«Er hat seine Ziele erreicht»
Kocher begründete den Verzicht auf das Buch mit dem Argument, Reichen habe zu tagesaktuelle Fragen gestellt. «Das war aber wohl eine Schutzbehauptung», vermutet Reichen gegenüber dem «Tages-Anzeiger»: «Wahrscheinlich wollte man das Präsidialjahr nicht mehr in Erinnerung rufen. Dies, obwohl das Buch für Merz eine Chance gewesen wäre, das Jahr aus seiner Sicht zu analysieren.»
Reichen meint denn auch, das die Leistung Merz' als Bundesrat sehr einseitig dargestellt worden sei: «Er ist kein Visionär, aber er hat seine Ziele – sparen und Schulden senken – erreicht.»