Kritik an Bundesrat«Appelle an die Eigenverantwortung bringen nichts mehr»
Der Bundesrat verzichtet weiterhin auf härtere Massnahmen für die ganze Schweiz. Dafür erntet er Kritik von Epidemiologen. Es gibt aber auch Lob für den freiheitlichen Weg.
Darum gehts
«Die Situation in der Schweiz ist kritisch und wird sich weiter verschärfen.» Das sagt Gesundheitsminister Alain Berset am Mittwoch nach der Bundesratssitzung. Dennoch hat man keine weiteren Massnahmen beschlossen: Eine Überlastung der Spitäler solle «mit kantonalen Massnahmen und konsequentem Umsetzen der Basismassnahmen» erreicht werden. «Diese Strategie birgt natürlich auch Risiken», sagte Berset.
Nur einen Tag zuvor hatte die wissenschaftliche Corona-Taskforce des Bundesrats ein Horrorszenario gezeichnet: Schon im Dezember kommen die Spitäler laut der Taskforce bei der aktuellen Entwicklung der Pandemie wieder in eine Situation, wo sie triagieren müssen. «Aus epidemiologischer Sicht braucht es jetzt Massnahmen zur Kontaktbeschränkung, um die Zahlen zu senken», sagte Taskforce-Leiterin Tanja Stadler.
«Diese Kommunikation kann verunsichern»
Dass die Aussagen der Taskforce und des Bundesrats selbst derart auseinandergehen, ist für den PR-Experten Ferris Bühler problematisch: Momentan wüssten die Bürgerinnen und Bürger nicht, wem sie zuhören sollen: «Sowohl politische Institutionen als auch die wissenschaftliche Taskforce sprechen von einer ‹kritischen Situation›, entscheiden aber nichts.» Das könne grosse Verunsicherung auslösen.
Dabei ist es laut Bühler in einer Krise besonders wichtig, klar und einheitlich zu kommunizieren: «Man müsste den Leuten so Sicherheit vermitteln.» Zudem müsse immer klar sein, wann die Entscheidungsträger das nächste Mal informieren werden.
«Berset bleibt freiheitlicher Strategie treu»
Der ehemalige BAG-Vize Andreas Faller beurteilt die Bundesrats-Pressekonferenz grundsätzlich positiv: «Bundesrat Berset hat klar gesagt, dass die freiheitliche Strategie, welche die Schweiz schon seit einiger Zeit fährt, ein Risiko darstellt, dafür aber grösstmögliche Freiheit für unsere Bevölkerung birgt. Trotzdem ist er dieser treu geblieben. Das ist konsequent.» Die Hospitalisationszahlen geben dem Bundesrat laut Faller bisher noch recht: «Trotz drei- bis viermal so vielen Infektionen wie im Frühling haben wir im Verhältnis deutlich weniger Spitaleintritte als damals.»
Problematisch ist für Faller, dass der Bundesrat nicht zumindest einige sanfte Massnahmen in die Vernehmlassung geschickt hat: «In einer Pandemie kann die Situation sich innerhalb weniger Wochen radikal verändern. Es ist zentral, dass schnell reagiert werden kann. Dafür hätte der Bundesrat mit der Vernehmlassung die Grundlagen schaffen können.»
«Natürliche Immunität dürfte leicht höher sein»
Für Jürg Utzinger, Direktor des Schweizerischen Tropen- und Public Health-Instituts, liegt die Verantwortung jetzt klar bei den Kantonen. «Diese haben die nötigen Erfahrungen und Instrumente, um auf die lokale Situation abgestimmt, den Massnahmen-Mix ideal anzupassen. Dazu kommt die Eigenverantwortung von allen Bürgern und Bürgerinnen.» Und er kann einen möglichen Vorteil im Schweizer Sonderweg erkennen: «Durch die phasenweise weniger harten Restriktionen, etwa die kurzen Schulschliessungen, dürfte die natürliche Immunität durch Infektionen in der Schweiz leicht höher sein als in den Nachbarländern und dies könnte uns jetzt zugute kommen.»
Insgesamt habe die Schweiz Gesundheit und das soziale Gefüge immer ganzheitlich betrachtet und sei damit nicht immer schlecht gefahren: «Wenn alle sich jetzt an die bestehenden Massnahmen halten, die Impfquote weiter erhöht wird und die Risikogruppen schnellen Zugang zur Booster-Impfung bekommen, besteht nach wie vor die Chance, dass wir einigermassen unbeschadet durch den Winter kommen.»
Epidemiologe fordert Massnahmen
Aus epidemiologischer Sicht sei die Strategie des Bundes hingegen schwer zu rechtfertigen, sagt Experte Andreas Cerny: «Wir sehen momentan eine grosse Corona-Welle in ganz Europa.» Es sei naiv zu glauben, dass die Schweiz damit keine Probleme haben werde. «Es ist im Grunde einfach: Wenn man Eindämmungsmassnahmen trifft, gehen die Infektions- und Hospitalisationszahlen nach unten. Wenn nicht, dann steigen sie», so der Infektiologe weiter.
Die Appelle an die Eigenverantwortung der Bevölkerung fruchten längst nicht mehr, so Cerny: «Sinnvoll wäre nun etwa eine flächendeckende Maskenpflicht in Innenräumen – auch mit Zertifikat.»
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Hier findest du Hilfe:
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BAG-Infoline Covid-19-Impfung, Tel. 058 377 88 92
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Branchenhilfe.ch, Ratgeber für betroffene Wirtschaftszweige
Pro Juventute, Beratung für Kinder und Jugendliche, Tel. 147
Dargebotene Hand, Sorgen-Hotline, Tel. 143