Ann in der Ukraine«Ich bin in einen Fleischwolf geraten» – Bachmut-Kämpfer schildern Horror
Um Bachmut tobt eine blutige Schlacht. 20 Minuten hat mit ukrainischen Soldaten gesprochen, die in dieser Hölle kämpfen. Sie berichten, wie die Wagner-Söldner vorgehen – und halten sich mit Kritik an der eigenen Führung nicht zurück.
20 Minuten erhielt exklusive Go-Pro-Aufnahmen aus dem Innern von Bachmut.
Courtesy of Ukrainian Border Guards LuhanskDarum gehts
Die ukrainische Kleinstadt Bachmut ist seit letztem Sommer umkämpft.
Die russische Wagner-Gruppe gewinnt zunehmend an Boden. Die Verluste auf beiden Seiten sind enorm.
20 Minuten hat mit ukrainischen Soldaten gesprochen, die in Bachmut kämpfen oder gekämpft haben.
Exklusives Videomaterial gibt einen seltenen Einblick in das Innere der Stadt.
Stopp an einer Tankstelle etwa fünf Kilometer nordwestlich von der Bachmut-Front entfernt. Wir tanken, ein gepanzertes Militärfahrzeug hält neben uns, vier Soldaten steigen aus. Sie gehören einer ukrainischen Spezialeinheit an, das ist an ihren Abzeichen zu erkennen und vielleicht auch daran, dass sie auffällig viele Magazine auf sich tragen.
Sie wirken abgemagert, haben hagere Gesichter und einen unglaublich müden Ausdruck in den Augen. Sie dürften gerade von der Front kommen. Reden wollen und können sie nicht mit uns. Trotzdem die Frage: Hätten die ukrainischen Truppen sich nicht schon früher aus der umkämpften Kleinstadt im Osten zurückziehen sollen? Ihren Mienen ist abzulesen, dass sie eben das denken.

Gerade von der Bachmut-Front zurück: Ukrainische Spezialeinheiten.
20 Minuten/Ann GuenterSelbst Grenzwächter kämpfen in Bachmut
Die russischen Soldaten, allen voran die Söldner der russischen Wagner-Gruppe, setzten die ukrainischen Truppen im Ostteil Bachmuts unter Druck. Sie sind bis zum Bachmutka-Fluss vorgerückt, bedrängen die Ukrainer von drei Seiten. Hört man dagegen Yvevhen Rozehniuk (43) zu, ist von der prekären Lage der ukrainischen Streitkräfte wenig zu bemerken. Rozehniuk ist vom ukrainischen Grenzschutz und offensichtlich ein Optimist.
«Es gibt all diese Gerüchte, dass wir uns aus Bachmut zurückziehen. Unsere zwei Einheiten zumindest halten die Positionen. Und wir halten sie, bis wir einen anderen Befehl erhalten.» Dass selbst ukrainische Grenzwächter an der Bachmut-Front kämpfen, erklärt der 43-Jährige folgendermassen: «Als russische Truppen unsere Grenze stürmten, waren wir die Ersten, die ihnen begegneten, und die Ersten, die wegen ihnen starben. Wir beschlossen, uns zu rächen, und meldeten uns für den Kampf.»

Yvevhen Rozehniuk (43): «Die Wagner-Leute kämpfen in drei Wellen.»
20 Minuten/ Ann GuenterDrei Wagner-Wellen: Häftlinge, Zivilisten, Profis
Rozehniuk macht kein Geheimnis daraus: Die Ukrainer seien nach den monatelangen Gefechten um die Kleinstadt im Osten ausgelaugt. Das habe vor allem mit der Taktik der russischen Wagner-Söldnertruppen zu tun. «Sie kämpfen in drei Wellen: Erst schicken sie die aus den Gefängnissen rekrutierten Männer, die unsere Feuerstellungen ausfindig machen. Ist das passiert, rücken die mobilisierten Soldaten nach. Und dann übernehmen die Kader», also jene professionellen Söldner, die in Syrien oder Libyen gekämpft haben.
Dabei wiesen die Abzeichen die Hierarchie unter den Wagner-Leuten aus: «Die Profis tragen ein Abzeichen mit einem V, die mobilisierten Zivilisten eines mit A und die aus den Gefängnissen rekrutierten Häftlinge tragen einen Batch mit einem K.»
«Was in Bachmut geschah, überstieg ihre Erfahrung»
Gefangen genommene Wagner-Söldner berichteten ihnen immer wieder dasselbe: «Ihre verletzten Kämpfer werden liegen gelassen oder erschossen. Denn es braucht im Kampf jeweils mindestens zwei Männer, einen Mediziner und einen Soldaten, die sich um einen Verletzten kümmern – offensichtlich zu viel Aufwand für Wagner», so Rozehniuk verächtlich.
Auch der ausgebildete Fallschirmjäger, Roman Vodyantiskii (34), hat über zwei Monate ohne Unterbruch in Bachmut gekämpft. «Schon am ersten Tag wurde uns klar, dass hier etwas nicht stimmt. Einige von uns verweigerten die Teilnahme – was in Bachmut geschah, überstieg ihre Erfahrung.»

Roman Vodyantiskii (34): «Meine militärische Spezialausbildung spielte unter diesen Bedingungen keine Rolle.»
20 Minuten/ Ann Guenter«Überlastung, Dehydrierung, konstante Adrenalinstösse»
Er schildert den konstanten Beschuss durch Helikopter, Artillerie, Raketen und Panzer. «Jeder Meter in diesem Gebiet war schwierig.» Die Gefechte hätten mitunter bis zu sechs Stunden am Stück gedauert. In den ersten zehn Tagen seien von 43 Angehörigen seiner Aufklärungseinheit 18 Männer gestorben. Fünf seiner Kollegen seien auf einen Schlag verwundet worden. «Vier konnten wir herausholen, der fünfte wurde getötet, als die Russen uns verfolgten.»
Während seiner Zeit in Bachmut hätten seine Beine wegen Krämpfen zweimal schlapp gemacht, zweimal sei sein Herz fast stehen geblieben – «alles wegen Überlastung, Dehydrierung und der konstanten Adrenalinstösse in der ganzen Hölle um mich herum. Meine militärische Spezialausbildung spielte unter diesen Bedingungen keine grosse Rolle.»
Entführungen in ukrainischen Uniformen
Vor Bachmut habe er sich vorgestellt, dass er «in einem coolen Film» mitspiele, dass er ein Superheld sei. «Doch in den Filmen sterben sie nicht», so Vodyantiskii. Es sei schlicht unmöglich zu erfassen, was sich an dieser Front abspiele. «In Bachmut ist mir klar geworden, dass ich in einen Fleischwolf geraten bin.»
Auch Vodyantiskii gibt einen Einblick in die Taktiken des Gegners: «Der Feind setzt seit August subversive Truppen in Bachmut ein: Sie tarnen sich mit ukrainischen Uniformen und entführen unsere Soldaten von Beobachtungsposten.»
«Ich will für mein Land leben, nicht sterben»
So komme es mitunter zu haarsträubenden Situationen: «Wir erhielten den Befehl, uns mit einer anderen Gruppe zu treffen. Anhand verschlüsselter Passwörter traten wir mit den Männern in Kontakt und gingen mit ihnen gemeinsam zur Inspektion. Gerade noch rechtzeitig bemerkten wir ihren Chevron mit der russischen Trikolore. Der Feind hatte unsere Männer ausgeschaltet, gab sich als ukrainischer Trupp aus.»
Gegenüber der ukrainischen Militärführung gibt sich der 34-Jährige äusserst kritisch. Er macht schlechte Kommunikation aus und hinterfragt Kompetenzen: «Panik unter uns Soldaten entsteht in Bachmut nicht wegen des konstanten Beschusses, sondern wegen der Erkenntnis, dass man uns falsche Aufgaben gibt.»
Mittlerweile hat sich Vodyantiskii beurlauben lassen. Er weiss, dass er bald wieder in den Kampf ziehen muss. «Ich habe keine andere Wahl. Jetzt wird ukrainische Geschichte geschrieben und wir alle müssen an diesem Moment teilnehmen.» Der 34-Jährige schweigt lange. Dann sagt er: «Ich will für mein Land leben, nicht sterben.»
Etwa eine Autostunde von der Bachmut-Front entfernt liegt die Stadt Kramatorsk. Raketeneinschläge gehören hier seit langem zum Alltag. Fällt Bachmut, wird die Stadt erst recht verletzlich.
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