Ausland wundert sich über Corona-Hotspot Schweiz

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Explosion der Corona-FälleAusland wundert sich über Corona-Hotspot Schweiz

Die Schweiz ist das neue Schweden: Deutsche, Niederländer und Italiener wundern sich über die Schweizer Corona-Strategie in der zweiten Welle.

Bis anhin haben die Schweizer Behörden auf drastische Massnahmen gegen das Coronavirus verzichtet – trotz explodierender Zahlen. Das erstaunt das Ausland.
Marc Raschke , Medizinjournalist und Instagram-Influencer aus Dortmund, erstaunt die lasche Praxis der Schweiz. Lange Zeit habe die Schweiz auf eine Maskenpflicht in geschlossenen Gebäuden verzichtet. «Es war sicherlich mutig, dies angesichts der steigenden Zahlen rund um die Schweiz so durchzuhalten.»
Am Mittwoch sagte Gesundheitsminister Alain Berset (SP): «Vor drei Wochen hatten wir eine der besten Situationen von ganz Europa. Heute haben wir eine der schlimmsten.»
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Bis anhin haben die Schweizer Behörden auf drastische Massnahmen gegen das Coronavirus verzichtet – trotz explodierender Zahlen. Das erstaunt das Ausland.

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Darum gehts

  • Dass angesichts der explodierenden Zahlen auf nationaler Ebene noch keine drastischen Massnahmen getroffen wurden, erstaunt das Ausland.

  • «Die Einstellung, dass die Schweiz immer und überall bequem und gut durchkommt, ist fast genetisch bedingt», sagt ein Krisenmanager.

Innert kurzer Zeit hat sich die Schweiz im Kampf gegen das Coronavirus von der Muster- zur Problemschülerin entwickelt. Noch im Juni stand sie an der Spitze einer globalen Rangliste. Die Analyse-Einheit Deep Knowledge Group lobte die Schweiz für ihre wirtschaftliche Widerstandsfähigkeit und ihren «sachlichen und wissenschaftlichen» Umgang mit der Epidemie.

Am Mittwoch sagte Gesundheitsminister Alain Berset (SP) hingegen: «Vor drei Wochen hatten wir eine der besten Situationen von ganz Europa. Heute haben wir eine der schlimmsten.» Einen Tag später erklärte Deutschland die ganze Schweiz zum Risikogebiet. Dass angesichts der explodierenden Zahlen auf nationaler Ebene noch keine drastischen Massnahmen getroffen wurden, erstaunt das Ausland.

«Gründlich in der Schweiz getäuscht»

Ein Artikel der deutschen Zeitschrift «Der Spiegel» bezeichnet das Handeln der Schweizer Regierung als «eher bedächtig». «Soso, das ist dem Berset ein Rätsel», schreibt ein Leser in der Kommentarspalte dazu. «Und so was ist für die Gesundheit eines Landes verantwortlich. Das ist sehr erstaunlich. Ich habe mich in der Schweiz sehr getäuscht. Gründlich.»

Auch Marc Raschke, Medizinjournalist und Instagram-Influencer aus Dortmund, erstaunt die lasche Praxis der Schweiz. In einem Post wies er erstaunt auf die im Vergleich zu Deutschland hohen Fallzahlen hin. Lange Zeit habe die Schweiz auf eine Maskenpflicht in geschlossenen Gebäuden verzichtet, sodass Jodelkonzerte
mit starkem Aerosol möglich waren, sagt er zu 20 Minuten. «Es war sicherlich mutig, dies angesichts der steigenden Zahlen rund um die Schweiz so durchzuhalten.»

Die Schweiz sei bekannt als Land, das alles im Griff habe und bis ins letzte Detail durchorganisiert sei, so Raschke. «Auf einem solchen Ruf darf man sich aber nicht ausruhen in diesen Tagen und auch nicht nachlässig mit Warnungen umgehen. Corona stellt vieles auf den Kopf.»

Die Situation verhalte sich wie beim Popcorn in einer sehr alten Pfanne, die ungleichmässig erhitzt werde, so Raschke. «Anfangs steigt die Temperatur am Boden sehr diffus, die Maiskörner lässt das quasi weitgehend kalt. Irgendwann wird die Hitze stärker – und dann ist irgendwann der ‹Tipping Point› erreicht, wo das Popcorn entsteht; erst eins, dann zwei – und irgendwann ganz viele auf einmal.»

«Rasches Handeln erwartet»

Bei Niederländern sorgt das Vorgehen ebenso für Kopfschütteln. «Die Schweiz ist ein führendes Land, von dem man rasches und adäquates Handeln erwartet», sagt F. H.*, dessen erwachsene Kinder in der Schweiz leben. Der Vater macht darauf aufmerksam, dass sich die Niederlanden zurzeit in einem Teil-Lockdown befänden. Dazu müssten die Menschen eine lange Liste von zusätzlichen Massnahmen befolgen. In der Schweiz könne dagegen jeder Kanton nach eigenem Ermessen Massnahmen erlassen. «Meine Frau und ich machen uns Sorgen, dass die Schweiz als ganzes Land nicht genügend unternimmt, um die Situation in den Griff zu bekommen.»

Auch die Italiener können die laschen Massnahmen der Schweiz nicht nachvollziehen. «Jetzt erschreckt die Schweiz auch Italien», titelte «Il Messaggero». Derweil bereiten sich die Behörden in Sardinien bereits auf die Ankündigung eines Lockdown vor. Sardinien sei bei Weitem nicht der reichste Ort der Welt, sagt eine Italienerin. «In der Schweiz aber erzählen sie, man könne wegen der Wirtschaft keinen Lockdown machen.» Das verstehe sie nicht ganz.

Schweiz sei in Krise lethargisch

Hans Klaus, Krisenmanager und ehemaliger Informationschef des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements, begründet das Zögern der Behörden mit einer Schweizer Eigenheit. «Die Einstellung, dass die Schweiz immer und überall bequem und gut durchkommt, ist fast genetisch bedingt.» Bei internationalen Schwierigkeiten habe sie seit Jahrzehnten durch Arrangements immer ein Hintertürchen gefunden und dadurch grossen Veränderungen oder Anpassungen ausweichen können. «Durch die ausgeprägte direkte Demokratie sind es die Schweizer zudem gewohnt, über jeden Fussgängerstreifen abstimmen zu können.»

Diese Eigenheiten machen das Land in der Krise laut Klaus lethargisch. «In einer Krise sind hingegen eine klare Haltung und Führung der Behörden wichtig.» Oft fehle den Schweizern auch der Blick über die Landesgrenzen hinaus. «Typisch schweizerisch ist, dass man bis nach Chiasso schaut und weiter nicht.» Dies erkläre auch, warum sich die Wirtschaftsvertreter gegen strengere Massnahmen stark sträubten. «Die Krämerseele des Schweizers kommt zum Vorschein. Solange es ihn nicht direkt betrifft, hat er das Gefühl, sein Geschäft normal weiterführen zu können.»

* Name der Redaktion bekannt.

Behörden warten ab

Je nach Entwicklung der Situation werde der Bundesrat am kommenden Mittwoch über neue Massnahmen entscheiden, kündigte Gesundheitsminister Alain Berset (SP) an einer Medienkonferenz vom Donnerstag an. Man sei jetzt in der Umsetzung der getroffenen Strategie. «Ziel ist es, die Kontrolle über die Entwicklung zu übernehmen.» Laut Berset geht es nicht schneller vorwärts, weil die Kantone die Chance erhalten sollen, sich vorzubereiten und zu handeln. «Wir wollen keinen Blindflug. Auch nicht bei den Massnahmen.»

Corona-Infos

  • Wie entwickeln sich die Corona-Fälle in der Schweiz und in Europa? Wie siehts in meinem Kanton aus? Den Überblick über die wichtigsten Zahlen gibts hier.

  • Für Rückkehrer aus welchen Staaten und Gebieten gilt eine Quarantänepflicht in der Schweiz? Die aktuelle Quarantäneliste gibts hier.

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