Aggression auf der A1Autobahnpöbler droht laut Anwalt Gefängnisstrafe
Ein Autolenker rastet mitten auf der A1 aus und attackiert einen anderen Fahrer. Ein Fahrlehrer beobachtet gehäuft Ausraster am Steuer.
Diese Szenen spielten sich kürzlich auf der A1 ab.
Leser-ReporterDarum gehts
- Auf der A1 kam es nach einem Gedrängel zwischen zwei Autofahrern zu einem Handgemenge.
- Simon Bigler, Anwalt für Verkehrsrecht in Bern, schliesst nicht aus, dass dem wutentbrannten Lenker eine Freiheitsstrafe droht.
- Willi Wismer, Präsident des Zürcher Fahrlehrerverbands, beobachtet: «Aggressionen haben auf der Strasse tendenziell zugenommen.»
Ein Facebook-Video zeigt, wie ein weisser BMW auf der A1 mehrmals versucht, ein schwarzes Auto zu überholen. Dieses schneidet ihm jedoch immer wieder den Weg ab und drängt den BMW auf den Pannenstreifen. Schliesslich halten die Autos auf dem Pannenstreifen an. Der Lenker des schwarzen Autos – Lehrer D. G.* – steigt wutentbrannt aus und geht auf den Fahrer des weissen BMW los.
Solche Szenen kommen im Strassenverkehr regelmässig vor (siehe Box). Wie oft genau, ist unklar. Die Beratungsstelle für Unfallverhütung und die Polizeien verfügen auf Anfrage über keine entsprechende Statistik.
Aufreger wegen «kleinem Seich»
Fachleute wie Willi Wismer, Präsident des Zürcher Fahrlehrerverbands, beobachten aber zunehmend Streitereien auf den Strassen: «Aggressionen haben auf der Strasse tendenziell zugenommen», sagt er. Die Leute würden sich «ab jedem kleinen Seich» nerven. «Es muss nur jemand am falschen Ort anhalten, im Weg stehen, etwas zu früh ausscheren oder überholen – und schon brennen dem einen oder anderen die Sicherungen durch.»
Die meisten Lenker könnten sich jedoch beherrschen. «Sie bleiben im Auto sitzen, verwerfen die Hände.» Dass die Verkehrsteilnehmer aggressiv reagierten, stelle er regelmässig vor Vollmond fest. Wismer vermutet aber auch, dass der steigende Druck bei der Arbeit, die längeren Arbeitswege und die derzeitige Hitze die Toleranzgrenze gesenkt hätten.
Corona-Krise verstärkt Anspannung
Wenn verschiedene Faktoren wie Stress, Stau und eine niedrige Frustrationstoleranz zusammenkämen, könne es dem einen oder anderen die Sicherungen raushauen, erklärt auch Verkehrspsychologe Michael Vögtlin. Hinzu komme die Corona-Krise, die das Leben vieler erschwere und ebenfalls zu erhöhter Anspannung führen könne. «Allein aufgrund der Verkehrssituation ist ein Ausraster wie auf dem Video nicht zu erklären.»
Laut Vögtlin dürfte dem wutentbrannten Lenker vorsorglich der Führerausweis entzogen werden. Zudem werde er beim Verkehrspsychologen antraben müssen. «Der muss beurteilen, ob das Verhalten eine Ausnahmeerscheinung ist oder ob die Person Charakterzüge aufweist, die derartige Vorfälle auch in Zukunft begünstigen könnten.»
«Nicht der richtige Ort für Erziehungsversuche»
Aggressionen auf der Strasse gab es laut Thomas Rohrbach, Sprecher des Bundesamts für Strassen (Astra), schon immer. «Heute sind aber mehr Leute unterwegs und durch Handys wird mehr über solche Vorfälle berichtet.» Rohrbach macht darauf aufmerksam, dass das Anhalten auf der Autobahn nur im Falle einer Panne oder eines medizinischen Notfalls vertretbar sei. «Das Manöver, das sich die beiden Autofahrer gelieferten hatten, ist unglaublich gefährlich. Man kann nur froh sein, dass es dabei keine Verletzte oder gar Tote gegeben hat.»
Die Strasse sei nicht der richtige Ort für sogenannte Erziehungsversuche, so Rohrbach. «Wird man von einem anderen Fahrzeuglenker bedrängt, hat man kein Recht auf ein Ausbremsmanöver.» Wichtig sei, dass sich Lenker nicht provozieren liessen. «Gibt jemand die Spur nicht frei, atmet man am besten dreimal tief durch.»
«Riecht nach Freiheitsstrafe»
Laut Simon Bigler, Anwalt für Verkehrsrecht in Bern, dürften im vorliegenden Fall die Gefährdung des Lebens und Nötigung gemäss Strafgesetzbuch (StGB) sowie eine grobe Verkehrsregelverletzung nach Artikel 90 des Strassenverkehrsgesetzes (SVG) im Zentrum stehen. Damit könnte der Lenker theoretisch noch mit einer Geldstrafe davonkommen.
Doch Bigler ist skeptisch. Denn bei der rechtlichen Beurteilung des Falls könnte auch Absatz 3 von Art. 90 zur Anwendung kommen. Demgemäss wird mit einer Freiheitsstrafe von ein bis vier Jahren bestraft, wer durch «vorsätzliche Verletzung elementarer Verkehrsregeln das hohe Risiko eines Unfalls mit Schwerverletzten oder Todesopfern eingeht». Dies kann namentlich bei waghalsigem Überholen der Fall sein.
«Für mich riecht das Ganze eher nach Freiheitsstrafe», sagt Bigler. Auf der Autobahn, wo viele Menschen in relativ hohem Tempo unterwegs seien, führe ein solch gefährliches Manöver schnell zu einer massiven Gefährdung Dritter. Er schränkt aber ein, dass eine Freiheitsstrafe wohl bedingt ausgesprochen würde, sofern der Lenker nicht vorbestraft sei. Auch beim Lenker des weissen BMWs stehe aufgrund des zu dichten Auffahrens eine grobe Verkehrsregelverletzung im Raum, so Bigler.
* Name der Redaktion bekannt
Ausraster auf der Strasse
82 Prozent aller Autofahrer in Deutschland verlieren einer Umfrage des Autovermieters CarDelMar zufolge mindestens einmal im Monat die Beherrschung. Auch in der Schweiz spielten sich schon spektakuläre Szenen ab. Im Februar 2019 entbrannte auf der A1 in Richtung Bern auf Höhe von Muhen AG ein Streit zwischen einem Deutschen und einem Italiener. Kurz vor dem Anschluss Aarau-West bremste der Deutsche trotz freier Fahrbahn bis zum Stillstand ab, was den Italiener zum Anhalten zwang. Trotz des dichten Verkehrs stieg der Deutsche aus und ging zum Auto seines Kontrahenten. Während des Streits flüchtete der Italiener zurück in sein Auto. Darauf drängte er sich durch die Lücke zwischen dem Auto des Deutschen und einem Mannschaftstransporter der Armee, der auf dem Normalstreifen stand. Dabei wurde sein Auto und das Militärfahrzeug beschädigt. Beide Lenker mussten nach dem Vorfall den Führerausweis abgeben.
Im September 2017 ging ein Dashcam-Video auf der A3 bei Pratteln BL viral. Darin zu sehen ist ein Solothurner Opel-Fahrer, der rechts über den Pannenstreifen überholt und direkt vor der Kamera einspurt. Danach hält er an und beschimpft den Lenker hinter ihm mit «Hau ab, du Arschloch!». Ein weiteres Mal rastet der Fahrer vor einer Ampel aus. Obwohl das Signal auf Grün steht, wartet er – und fährt erst bei Orange los (siehe Video unten).