«Armutszeugnis für die Schweiz» - Basler Gericht schockt Öffentlichkeit mit Vergewaltigungsurteil

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«Armutszeugnis für die Schweiz»Basler Gericht schockt Öffentlichkeit mit Vergewaltigungsurteil

Das Basler Appellationsgericht macht eine Frau für ihre Vergewaltigung mitverantwortlich. Bei der Opferanwältin, in der Politik und in den sozialen Medien stösst die Urteilsbegründung auf Unverständnis und Kritik.

Der Täter, ein 33-jährige Portugiese, hat gemeinsam mit einem damals 17-jährigen Kollegen am 1. Februar 2020  eine Frau in einem Hauseingang vergewaltigt.
Die beiden Männer begleiteten die damals 33-jährige Frau nach einer Partynacht nach Hause. Der Täter kannte das Opfer schon seit Jahren.
Bei der Verhandlung vor dem Appellationsgericht behauptet der 33-Jährige, die sexuellen Handlungen im Hauseingang seien einvernehmlich gewesen. Die Frau alarmierte allerdings unmittelbar nach der Tat die Polizei und war am Telefon völlig aufgelöst, wie die Tonaufnahme des Notrufs belegt.
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Der Täter, ein 33-jährige Portugiese, hat gemeinsam mit einem damals 17-jährigen Kollegen am 1. Februar 2020 eine Frau in einem Hauseingang vergewaltigt.

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Darum gehts

  • Ein heute 33-jähriger Portugiese wurde in einem Vergewaltigungsfall in erster Instanz zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und drei Monaten verurteilt.

  • Zwar bestätigt das Basler Appellationsgericht den Schuldspruch im Berufungsverfahren, es reduziert die Strafen für den Täter aber deutlich.

  • Bei der Anwältin des Opfers und in der Politik stösst der Gerichtsentscheid und Urteilsbegründung auf Unverständnis.

  • Auch in den sozialen Medien sorgt die Urteilsbegründung für Diskussionen.

Statt für über vier Jahre hinter Gittern zu sitzen, kommt ein verurteilter Vergewaltiger bereits am 11. August aus dem Gefängnis. Dies, nachdem das Basler Appellationsgericht die Strafe gegen den Täter, einen 33-jährigen Portugiesen, deutlich gemildert hat – von 51 Monaten auf 36 Monate, die Hälfte davon bedingt.

Begründet wird das Urteil von Gerichtspräsidentin Liselotte Henz (FDP) unter anderem damit, dass die Frau «mit dem Feuer spielte» sowie «Signale auf Männer aussendet» und mit der Tatsache, dass die Übergriffe «relativ kurz» gewesen seien und zu keinen bleibenden physischen Verletzungen bei der Frau geführt hätten.

Aus dem Umstand, dass sich das Opfer wenige Stunden vor der Tat mit einem anderen Mann in eine Club-Toilette zurückgezogen hatte – wobei es nicht zum Geschlechtsverkehr gekommen sein soll – schlussfolgerte das Gericht, dass Safer Sex für die Frau «kein Thema» sei. Zusammengefasst handle es sich um ein «mittleres Verschulden» des Täters, so die Richterin.

Vergewaltigung in Basel

  • Am 1. Februar 2020 wurde eine damals 33-jährige Frau auf dem Heimweg nach dem Ausgang im Hauseingang ihrer Wohnliegenschaft von zwei Männern vergewaltigt.

  • Einer der Täter, ein heute 33-jähriger Portugiese, wurde im August 2020 wegen der gemeinschaftlich begangenen Vergewaltigung vom Basler Strafgericht schuldig gesprochen und zu vier Jahren und drei Monaten Haft verurteilt.

  • Er ging in Berufung, das Appellationsgericht (in anderen Kantonen das Kantons- oder Obergericht, Anm. d. Red.) beurteilte daraufhin seinen Fall neu. Das Gericht beschloss eine Strafreduktion auf 36 Monate, wobei 18 Monate bedingt ausgesprochen wurden.

  • Zudem wurde der Landesverweis von acht auf sechs Jahre reduziert, auch Genugtuung muss er weniger zahlen.

Eine «falsche Signalwirkung»

Dass das Gericht dem Opfer eine Mitverantwortung für die eigene Vergewaltigung anlastete, sorgt in den sozialen Medien für Entrüstung: «So ein Urteil ist eine Schande und ein absoluter Hohn für jede Person, die eine Vergewaltigung hat durch- und überleben müssen!», schreibt eine Userin. Auch die Aussage des Schweizer Kabarettisten Gabriel Vetter, dass das Urteil zeige, wieso viele Opfer von Vergewaltigungen nicht zur Polizei gingen, stösst auf viel Zuspruch:

Die Vertreterin des Opfers, Rechtsanwältin Miriam Riegger, sagt: «Es ist enttäuschend und unverständlich, dass die zweite Instanz bei einem solchen Delikt von dieser Tragweite das Verschulden des Angeklagten milder eingestuft hat als die Vorinstanz.» Mit den Ausführungen der zweiten Instanz zum angeblichen Verhalten ihrer Klientin sei sie nicht einverstanden, sagt Riegger: «Diese vermitteln eine falsche Signalwirkung. Ein Nein ist ein Nein und muss akzeptiert werden – unabhängig vom Lebenswandel des Opfers.» Ob das Verdikt weitergezogen wird, sei noch offen. «Ich werde zunächst das schriftliche Urteil abwarten und dann weiterschauen», so Riegger.

Beispiel der «Vergewaltigungs-Kultur»

Gar als «Armutszeugnis für die Schweiz» bezeichnet Juso-Präsidentin Ronja Jansen das Urteil: «Dass die Frau als Mittäterin hingestellt wird, weil sie sich vielleicht auf Kontakte mit anderen Männern eingelassen hat, ist eine schädliche Vermischung von konsensuellen Handlungen und der Vergewaltigung.» Die Ausführungen zum Entscheid zeigten, wie verankert die sogenannte Rape Culture – also Vergewaltigungs-Kultur – in der Schweiz sei, sagt Jansen: «Wir leben in einer Gesellschaft, in welcher Vergewaltigungen und andere Formen sexualisierter Gewalt verbreitet sind und weitgehend toleriert oder zumindest verharmlost werden.»

Typisch in solchen Gesellschaften sei unter anderem, dass Opfer von sexueller Gewalt für die Taten mitschuldig gemacht werden, so Jansen. «So wird die Frau etwa gefragt, wie sie sich kleidete, obwohl das in keinster Weise relevant wäre.» Der Entscheid des Gerichts sei extrem stossend: «Frauen, die sexuelle Gewalt erlebt haben, werden nun noch häufiger zögern, diese zur Anzeige zu bringen.»

«Urteil wirft uns ein Jahrhundert zurück»

«Völlig unverständlich» ist der Entscheid auch für SVP-Vizepräsidentin und Nationalrätin Céline Amaudruz: «Es ist unbegreiflich, dass man einer Frau eine zweideutige Haltung vorwerfen kann, wenn sie Nein sagt.» Sie habe vergeblich gehofft, dass der Kniff, die Verantwortung des Opfers zur Strafmilderung des Täters heranzuziehen, von den Gerichten nicht mehr angewendet werde, sagt Amaudruz. «Das Urteil ist ein Schlag ins Gesicht des Opfers und damit in das aller Frauen, denn es impliziert, dass sie bei sexuellen Übergriffen eine gewisse Mitverantwortung tragen.»

Es sei «ganz offensichtlich», dass auch hier versucht wird, dem Opfer die Schuld in die Schuhe zu schieben, so Amaudruz. «Ein Juwelier, der Opfer eines Raubüberfalls wird, wird nie beschuldigt, Schmuck im Schaufenster ausgestellt zu haben. Im sexuellen Bereich wird das Opfer jedoch sehr oft verdächtigt, durch seine unklare Haltung für sein Unglück mitverantwortlich zu sein.» Darüber hinaus unterstütze das Urteil jene Täter, die vorgeben, die Weigerung des Opfers nicht gehört oder wahrgenommen zu haben. «In einer Zeit, in der die Frauen gegen die ihnen angetane Gewalt kämpfen, wirft uns dieses Urteil ein Jahrhundert zurück.»

Freizügigkeit kein Argument

Aus juristischer Sicht sei es legitim, bei einem Vergewaltigungsfall Abstufungen nach Schweregrad zu machen, sagt Ständerat und Rechtsanwalt Andrea Caroni. «Ob etwa Verletzungen entstanden sind, wie lange die Vergewaltigung angedauert hat oder welche Art von Gewalt ausgeübt wurde, kann eine Richterin oder ein Richter bei der Beurteilung miteinfliessen lassen.»

Das Argument, dass eine Frau für ihre Vergewaltigung mitverantwortlich ist, weil sich gegenüber anderen Personen freizügig gezeigt hatte, sei aber nicht haltbar. Caroni: «Eine Frau kann mit zehn Männern Sex haben. Das gibt dem Elften nicht das Recht, sie zu vergewaltigen.»

«Kann Reduktion der Strafe nachvollziehen»

Das Urteil bewege sich im Rahmen der gesetzlichen Regelung und der üblichen Rechtsprechung, sagt Marianne Heer, ehemalige Luzerner Kantonsrichterin und frühere Oberstaatsanwältin. Die Erwägungen des Gerichts scheinen plausibel: «Das Appellationsgericht hat den Schuldspruch der Vorinstanz bestätigt.» Bei der Frage des Strafmasses verhalte es sich im Sexualstrafrecht jedoch nicht wie bei anderen Delikten. «Die Höhe der Strafe ergibt sich aufgrund eines komplexen Entscheidungsprozesses.» Ins Gewicht fielen verschiedenste Faktoren.

«Nach dem Gesetz bemisst sich die Strafe nach dem konkreten Verschulden des Täters, unter anderem nach dessen Motiven, nach der Art der Tatbegehung, nach seinem Verhalten nach der Tat und anderen Gesichtspunkten. Da können Signale des späteren Opfers durchaus eine Rolle spielen.» Innerhalb des möglichen Strafrahmens von ein bis zehn Jahren müsse ein Gericht der Tatsache Rechnung tragen können, dass eine Frau unter Umständen eine gewisse Mitverantwortung dafür trage, wie ihr Verhalten interpretiert worden sei. «Unter diesen Umständen kann ich die Reduktion der Strafe durch die zweite Instanz nachvollziehen», so Heer. «Für mich als ehemalige Richterin, aber auch als Frau, darf sich das Opfer auch nicht daran stören, dass sich sein provozierendes Verhalten zugunsten des Täters auswirkt.»

Auf eine Anfrage von 20 Minuten hat Gerichtspräsidentin Liselotte Henz bislang nicht reagiert.

Bist du oder ist jemand, den du kennst, von sexualisierter, häuslicher, psychischer oder anderer Gewalt betroffen?

Hier findest du Hilfe:

Polizei nach Kanton

Beratungsstellen der Opferhilfe Schweiz

Lilli.ch, Onlineberatung für Jugendliche

Frauenhäuser in der Schweiz und Liechtenstein

Zwüschehalt, Schutzhäuser für Männer

Agredis, Gewaltberatung von Mann zu Mann, Tel. 078 744 88 88

LGBT+ Helpline, Tel. 0800 133 133

Dargebotene Hand, Sorgen-Hotline, Tel. 143

Pro Juventute, Beratung für Kinder und Jugendliche, Tel. 147

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